Russland: Das Volk als Klotz am Reformbein

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Ein Vertrauter von Präsident Medwedjew macht Lethargie und Rückständigkeit der Menschen dafür verantwortlich, dass der Kurs des Staatschefs stockt. Der Glaube an sich selbst sei nicht vorhanden.

MOSKAu.Normalerweise gilt das Volk als Opfer der Machthaber. Nun hat ein hochrangiger Vertreter der russischen Elite dessen Rolle uminterpretiert: In Wahrheit sei das russische Volk ein wichtiger Verantwortlicher dafür, dass die Modernisierung des Landes nicht gelinge. Mit dieser Diagnose ließ niemand Geringerer als Igor Jurgens, Chef des Instituts für moderne Entwicklung (InSoR), beim Präsidenten am Mittwoch aufhorchen. Gewiss, auch die Mehrheit der Elite sei an der fundamentalen Neuausrichtung des Landes nicht interessiert, sagte Jürgens laut der Zeitung „Nesawisimaja Gaseta“ auf einer Konferenz: Aber das Volk sei förmlich archaisch und mit durchschnittlichen progressiven Europäern frühestens in 15 Jahren „mental kompatibel“.

Jurgens‘ Wort hat Gewicht. Der 58-jährige Ökonom gehört nicht zu denen, die eine schwache Politik für ihr Scheitern aus der Verantwortung nimmt. Vielmehr hat sich Jurgens etwa in seiner Funktion als Vizepräsident des an sich mächtigen Industriellenverbandes vor Jahren mit dem Kreml angelegt, als dieser den privaten Ölkonzern Jukos zu zerstören begann. Vor zwei Jahren hat Präsident Dmitrij Medwedjew den Aufmüpfigen zum Chef des Thinktanks „InSoR“ gemacht, um den von ihm eingeschlagenen Modernisierungskurs zu begleiten.

Kollektiv steht über Individuum

Medwedjew habe viel umgesetzt, verteidigte Jurgens den Kremlchef gegenüber Kritikern, die ihm vorwerfen, dass im Land nichts vom Fleck komme: Zumindest so viel, wie das angesichts eines solchen Volkes und der Clankämpfe in der Elite möglich sei. Jurgens‘ Befund fällt in eine Zeit, in der das Machttandem zwischen Medwedjew und Premier Wladimir Putin einer angeblich immer größeren Zerreißprobe ausgesetzt ist.

Noch lassen beide offen, wer von ihnen in die Präsidentenwahl 2012 geht. Laut Beobachtern steht Russland am Scheideweg, ob Putins Mannschaft der dirigistischen Hardliner weiter das Sagen haben wird, oder ob Medwedjew doch noch jene kritische Masse an Unterstützern findet, um den Umbau hin zu mehr Öffnung, Demokratie und einer Differenzierung der Wirtschaft weg vom Rohstoffmodell zu stemmen.

Das Volk ist laut Jurgens jedenfalls noch nicht dazu bereit. Die paternalistische Haltung verhindere jegliche zivilgesellschaftliche Aktivität, aber auch der Glaube an sich selbst sei nicht vorhanden: „Die Russen sind noch sehr archaisch“, sagt Jurgens: „In der russischen Mentalität steht das Kollektiv über dem Individuum.“

Das Problem als solches ist nicht neu. Schließlich hat in der russischen Geschichte die für Europa konstitutive Epoche der Aufklärung nicht stattgefunden, die das Recht auf persönliche Freiheit und die Verpflichtung zur Verantwortung mit sich brachte.

Der Mangel an persönlicher Freiheit bleibt in Russland bis heute ein zweischneidiges Schwert: Einerseits wird das Volk immer noch mit den Mitteln eines autoritären Herrschaftssystems entmündigt; andererseits stellt es sich aber auch selbst nicht auf die Beine. Einzig im Internet und in der Bloggerszene entstand in den vergangenen zwei Jahren eine Form von Zivilgesellschaft mit großer Aktivität.

Keine Modernisierung unter Angst

Dass der wirtschaftliche Modernisierungskurs nur unter Voraussetzung politischer Freiheit gelingen kann, wird im ausgedünnten öffentlichen Diskurs in Russland längst betont. Medwedjew selbst, der vor seinen Modernisierungsambitionen fast ein Jahrzehnt lang Putins autoritären Kurs mitgetragen hatte, hat kürzlich festgehalten: „Ein Mensch, der verschreckt ist und Staat, Sicherheitskräfte sowie Konkurrenten fürchtet, kann keine Modernisierung betreiben.“

ZUR PERSON

Igor Jurgens (*1952 in Moskau) galt lange als Gegner von Wladimir Putins autoritärem Kurs. Seit 2001 ist Jurgens Vizepräsident des Industriellenverbandes, der mächtigen Vertretung der russischen Großunternehmer. 2008 betraute ihn Präsident Dmitrij Medwedjew mit der Leitung seines Thinktank für moderne Entwicklung (InSoR).

Der Wirtschaftswissenschaftler ist seit Kurzem auch Mitglied des Präsidialrates zur Entwicklung zivilgesellschaftlicher Institute. Noch vor Gorbatschows Perestroika arbeitete Jurgens in der Abteilung für Internationale Beziehungen bei der Unesco in Paris, später war er Vizeleiter der Gewerkschaftskonföderation innerhalb der GUS. [Archiv]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.09.2010)

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