Wort der Woche

In der Natur gibt es keinen Stillstand

In allen Organismen gibt es laufend zufällige Mutationen im Erbgut.
In allen Organismen gibt es laufend zufällige Mutationen im Erbgut.(c) imago images / Westend61 (Andrew Brookes via www.imago-images.de)
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Alle Arten, somit auch „unsere“ Coronaviren, verändern sich durch Mutationen ständig. Auf diese Weise entstehen laufend neue Varianten.

Das Coronavirus demonstriert uns gerade ein fundamentales Lebensprinzip: ständige Veränderung. In allen Organismen gibt es laufend zufällige Mutationen im Erbgut. Die meisten Mutationen haben keine unmittelbaren Auswirkungen (sie werden aber weitervererbt und sammeln sich sukzessive an). Manche Veränderungen führen hingegen zum Absterben, andere erhöhen die Überlebenschancen. Diese Mutanten haben einen Selektionsvorteil und vermehren sich daher stärker. So entstehen Varianten und auf längerer Sicht neue Arten.

Diesen Prozess erleben wir derzeit „live“ bei Sars-CoV-2: Innerhalb der 16 Monate, seit das Virus den Menschen befällt, gab es bereits Tausende Mutationen, und manche neue Varianten (wie etwa die britische) sind ansteckender, sodass sie sich in gewissen Populationen durchsetzen.

Ein ähnliches Phänomen ist seit einiger Zeit auch bei Bakterien zu beobachten, die zunehmend gegen Antibiotika resistent werden – sogenannte Krankenhauskeime, die immer schwerer zu bekämpfen sind und daher häufiger werden. Ein prominenter Fall ist Enterococcus faecalis, ein Darmbewohner, der an sich harmlos ist, aber bei Menschen mit geschwächter Immunabwehr schwere Infektionen auslösen kann, wenn er in die Blutbahn gerät.

Eine Forschergruppe um Anna Pöntinen (Uni Oslo) hat nun anhand von 2027 Proben aus den Jahren 1936 bis 2018 die Evolution der Antibiotikaresistenzen bei E. faecalis untersucht. Erstellt wurde ein Stammbaum der verschiedenen Varianten, überdies wurde datiert, wann sich die Zweige voneinander getrennt haben. Der Urvorfahr aller heutigen E.-faecalis-Varianten lebte demnach Mitte des 19. Jahrhunderts (Nature Communications, 9. 3.).

Bei der Analyse gab es eine Überraschung: Bisher dachte man, dass erst der überbordende Einsatz von Antibiotika in jüngster Zeit resistente Varianten hervorgebracht hat. Doch es zeigte sich, dass manche Resistenzen bei E. faecalis schon vor der industriellen Produktion von Antibiotika entstanden sind; die verantwortlichen Mutationen wurden offenbar von Generation zu Generation weitergegeben und bieten den Merkmalsträgern heute einen klaren Vorteil. Manche Varianten tragen indes auch Resistenzen in sich, die heute „sinnlos“ sind – etwa gegen Arsen und Quecksilber, die vor 100 Jahren häufig als Desinfektionsmittel eingesetzt wurden.

Veränderungen können also dauerhafte Spuren hinterlassen. Und diese sind wiederum die Basis für weitere Veränderungen.


Der Autor leitete das Forschungsressort der „Presse“ und ist Wissenschaftskommunikator am AIT.

meinung@diepresse.comdiepresse.com/wortderwoche

("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.03.2021)

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