Die Reichen, die Armen und die Ideologen

Das Genörgel um Sozialabbau und -missbrauch verdreht die Realität – und steht der Solidarität im Weg.

Über die Zukunft des Sozialstaates ließe sich leichter diskutieren, wenn die Ideologie nicht so lustvoll mitspielte. Ein aktuelles Beispiel: Wieder einmal schlägt die SPÖ eine Reichensteuer vor. Mit dem Argument: Auch die Millionäre sollten einen „für sie unbedeutenden Beitrag zur Bewältigung der Krise“ leisten (Staatssekretär Andreas Schieder, SPÖ). Ungeachtet der Sinnhaftigkeitsfrage: Hier wird unsachlich unterstellt, dass Millionäre bisher – im Gegensatz zum kleinen Mann – noch keinen „Beitrag zur Bewältigung der Krise“ geleistet hätten. Darum wäre es nur gerecht, sie endlich zur Kassa zu bitten.

Natürlich liefern die Reichen jetzt schon aufgrund der Steuerprogression erhebliche Beiträge ab. Aber das wird ebenso verschwiegen, wie die ÖVP bei ihrem Vorschlag eines Bürgerdienstes – als Waffe gegen Sozialmissbrauch – auch verschwiegen hat, dass es schon eine ganze Reihe von Sanktionen für derartigen Missbrauch gibt. Um Gerechtigkeit an beiden Enden des sozialen Spektrums geht es also offenbar gar nicht.

Oder ein internationales Beispiel: Das US-Sozialministerium hat nun bekannt gegeben, dass 2009 die Zahl der Menschen unter der Armutsgrenze ihren bisher höchsten Stand erreicht hat. Auf der „Presse“-Website hat jemand dazu gepostet (und die Erregung klingt orthografisch mit): „Damit ist die rechte, neobliberale Wirtschaftspolitik entgültig gescheitert.“ Außer man schaut genauer hin: So ist die Zahl der Armen tatsächlich gewachsen – in einer schweren Rezession auch nicht anders zu erwarten –, aber ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung ist mit 14,3 Prozent geringer als etwa in der Spätphase der Rezessionen 1982 und 1993. Tatsächlich bewegt sich die Armutsrate seit den 1960er-Jahren konstant in einem Korridor von elf bis knapp über 15 Prozent.

So viel anders ist die Situation in den USA also gar nicht wie bei uns. Hier gelten zwölf Prozent als armutsgefährdet – auch das seit Jahren ziemlich unverändert. Freilich sind die Statistiken nicht direkt vergleichbar (z.B. ist eine Person in den USA mit weniger als 11.161 Dollar im Jahr „arm“, in Europa mit weniger als 11.412 Euro „armutsgefährdet“), aber in beiden Fällen zeigen sie, dass der Anteil der Armen an der Bevölkerung im Langfristtrend nicht zugenommen hat.

Und damit wären wir bei einer Grundvoraussetzung einer sinnvollen Sozialstaatsdebatte: dem Eingeständnis, dass der Staat generell die Armut genauso gut im Griff hat wie vor zehn oder zwanzig Jahren. Und dass der böse Sozialabbau per Saldo nicht stattgefunden hat. Dass einzelne Maßnahmen zurückgefahren wurden, ist richtig; aber ebenso, dass andere dazugekommen oder ausgebaut worden sind. Aber wir befinden uns nicht – zur Verstärkung: nicht! – mitten in einem Paradigmenwechsel der Sozialpolitik. Auch nicht kurz davor oder danach.

Wenn dieser Befund die gemeinsame Basis wäre, dann könnte man endlich einmal sachlich eine ganze Reihe anstehender Fragen klären: Welche Sozialleistungen helfen wirklich? Und welche sind am sinnvollsten von der Obrigkeit zu erbringen – und auf welcher Ebene: Bund, Land, Gemeinde, Berufsorganisation usw.? Welche Sozialleistungen beinhalten negative Anreize, und wie stark sind diese? Hat die Ausgestaltung unseres Sozialstaates tatsächlich negativen Einfluss auf Auswahl und Integrationswillen vieler Zuwanderer? Ist es vermeidbar, dass immer noch mit der Zahl der Kinder im Haushalt das Risiko der Armutsgefährdung deutlich ansteigt? Ist die Lastenverteilung bei Gutverdienern und Vermögenden ebenso gerecht wie volkswirtschaftlich sinnvoll? Wie muss die Lastenverteilung zwischen den Generationen künftig aussehen?


Wenn man erst einmal mit den Antworten durch ist, dann schaut unser Sozialsystem vielleicht wirklich ganz anders aus als vorher. Es wäre vielleicht auch für ein Post-Wirtschaftskrisenbudget nachhaltig finanzierbar. Jedenfalls wäre es eine effizientere Hilfe für die Bedürftigen. Über das, was über die Armen hinausgeht, muss ja wohl weiterhin ideologisch gestritten werden: nämlich über die Frage, wie sehr der Staat mit seinen Umverteilungen, Anreizen und Pönalen am Leben nicht nur der Darbenden, sondern aller Bürger herumdoktern soll. Das hat aber mit neoliberal oder unsozial nichts zu tun.

Es ist eindeutig, dass sämtliche Parteien das Ziel einer solidarischen Hochleistungsgesellschaft verfolgen. Drum wäre es sehr hilfreich, einander nicht dauernd das „solidarisch“ streitig zu machen. Dann könnte man sich nämlich auch mehr um die „Hochleistung“ kümmern, aus der ja die solidarisch eingesetzten Mittel kommen – da steht Österreich vor mindestens so vielen Herausforderungen wie im Sozialen. Und denkt viel weniger darüber nach.

Neuer Reißtest für das soziale Netz Seiten 1, 2

("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.09.2010)

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