Thomas Sautners "Erfindung der Welt": Dem Ganzen auf der Spur

Alles kann in Thomas Sautners Roman für wahr und gleichzeitig nicht real gehalten werden. Doch das Buch ist eine Einladung, sich auf eine rätselhafte Reise, auf die Literatur, einzulassen. Erkundungen über das Leben.

Als Kind bemerkte ich, dass die Dinge nur existieren, wenn ich an sie glaubte“, schreibt Thomas Sautner in seinem 2019 erschienenen Roman „Das Mädchen an der Grenze“ und schlägt damit das Regelwerk naturwissenschaftlicher Lehren aus dem Feld. Natürlich nur in der Rolle des Schriftstellers, nur für ein kurzes Momentum und nur in den Rollen fiktiver Figuren innerhalb des grenzenlosen Raumes der Vorstellungskraft; in dem Einfinden in einer Funktion des Möglichkeiten-Auslotenden, der eine Welt in der Welt erschafft, in ebenjenen „Möglichkeiten zwischen Sein und Nichtsein“, so Sautner weiter.

Als kurze Zeit später mit „Großmutters Haus“ ein neuer Roman entsteht, ist Malina, eine Figur, die als Grenzgängerin konstruiert ist, ein weiteres Mal aufgetaucht. Ganz zwischen den Möglichkeiten, zwischen Sein und Nichtsein ist Malina diesmal auf der Suche nach ihrer vermeintlich toten Großmutter. Dass uns Malina knapp zwei Jahre später zum wiederholten Mal – und diesmal in weitaus „verflüchtigter“ und weniger greifbarer Form – begegnen würde, ist vielleicht eine dem Gesamtwerk Sautners eingeschriebene Voraussetzung. Es ist nämlich der Autor, der in seinen Romanen, besonders in „Die Erfindung der Welt“, vom „Arkanum“, dem Geheimnis einer allumfassenden Zusammengehörigkeit, spricht.

Wer ist diese Malina, welche Funktion wird ihr eingeschrieben, fragt man sich nun und findet vorerst den Grundriss einer Rahmenhandlung vor. Zu Beginn von „Die Erfindung der Welt“ erreicht eine Schriftstellerin ein anonymer Brief, in dem ihr auf affektierte Weise angetragen wird, einen Roman „über das Leben“ zu schreiben, es an einem bestimmten Ort exemplarisch zu erforschen. Weniger aber wird es ihr auch angetragen, als dass der Sender des Briefes, „G.“, der so ganz nebenbei auch eine nicht zu verachtende Geldsumme auf das Konto der Schriftstellerin überwiesen hat, sich diese vordergründig gönnerhafte Tat doch mehr für sich herausgenommen hat, als sie bloß anzubieten.

Aliza Berg, die Schriftstellerin, macht sich, von der Impertinenz ihres Herausforderers dazu aufgefordert, auf den Weg, um das Stück Wald, das „G.“ auf einer beigefügten Orientierungskarte sichtbar gemacht hat, mit den Mitteln der Literatur zu erschließen. Dabei fühlt sich die Schriftstellerin von ihrem dreist handelnden Auftraggeber in eine schöpferische Enge getrieben, wie sie in derselben Weise darauf hofft, ebendieser Enge so auch zu entkommen.

„G.“ ist Kontrahent, Antiheld, und trotzdem scheint etwas von ihm auch in der Figur der Schriftstellerin zu verweilen; und es verhält sich anders als bei der Bachstelze, die in diesem Roman zu einem späteren Zeitpunkt noch eine sehr kleine, aber schlüsselhafte Rolle spielen wird: Denn Aliza Berg erkennt, dass sie diese Herausforderung – eben mit Blick auf ihren Kontrahenten wie auf sich selbst gerichtet – annehmen muss. Da donnert der Fiat Cinquecento, aufgefüttert mit der weltenerkundungsfreudigen Neugier seiner Lenkerin, auch schon über die Straßen literarisch aufgefütterter Experimentierfreude und kommt in einem Örtchen namens Litstein zu stehen, dem Ausgangspunkt Aliza Bergs Erkundungen über das Leben.

In einem Waldstück, dem ebenfalls noch eine bedeutende Rolle für das weitere Geschehen zuteilwird, liegt am Rande einer Lichtung ein sich im Licht spiegelnder „zerbrochener, glasierter Tonkrug“ auf dem Waldboden. In diesem meint eine Bachstelze, ihren Kontrahenten zu erkennen, und geht, von ihrem animalischen Drang getrieben, auf ihr Spiegelbild los. Bloß als Beobachtung angelegt ist diese Szene, in ihr liegt aber auch die Möglichkeit des Menschen, sich seiner selbst bewusst, Teil einer Selbsterkenntnis zu werden – ein wesentliches Motiv in Sautners Texten, und in diesem ganz besonders.

Durch diesen „Niemandswald“ laufen Aliza Berg und die Gräfin Hohensinn schon bald – in deren adeligen Gemächern die Schriftstellerin ihre vorübergehende Bleibe finden sollte –, bis sie im Forsthaus von Kristyna Janouch einkehren. Die geheimnisvolle Janouch, die Sautner-Leser und -Leserinnen schon aus seinem Figuren-Repertoire kennen, bietet ihren spontanen Gästen die ebenfalls altbekannten, bewusstseinserweiternden Kräuterzigaretten an.

Später erzählt sie von einer vermeintlichen Enkelin namens Malina, an deren Existenz die Alte, in der ein geheimnisvolles Wesen zu hausen scheint, unbeirrt glaubt. Malina sollte diesmal vielleicht, und wenn überhaupt, in etwas anderer Weise in Erscheinung treten. Sie dient aber eben auch dazu aufzuzeigen, was möglich sein kann: in der Natur, in der Kunst, im Schreiben, dem hier ein existenzielle Rolle zukommt, während Sautner ihm in diesem Text auf den Grund geht.

Auch das Örtchen Litstein, das Schloss und die angrenzende Waldlandschaft liegen verborgen zwischen den transzendenten Grenzen des Vorstellbaren. Erkennen lässt es sich nur, wenn man durch seine Ränder hindurchdringt. Alles scheint hier für wahr und gleichzeitig nicht real gehalten werden zu können, aber als Lesender wird man dazu angehalten, sich auf diese rätselhafte Reise, auf die Literatur, einzulassen. Auch die Erzählperspektive wechselt: Erst wenn man sich aus der Haut der Ich-Sicht herausgeschält hat, kann ein Erkenntnisprozess wohl voranschreiten.

Es ist eine Erkundungsreise, die auf Polyfonie und dem Blick nach innen (wie nach außen) beruht und damit auf die Allmacht des Ganzen, des Universums, verweist. „Und ist es nicht auch so, dass Literatur gerade die Pflicht hat, aufs Ganze zu gehen und gegen jede Vernunft immer nur aufs Ganze zu gehen?“, schreibt der Autor, während er mit „Die Erfindung der Welt“ einen Text erschafft, der sich – mitsamt seinen Figuren – selbst erfindet.

Thomas Sautner geht aufs Ganze, mehr noch, er will diese Ganzheit ausloten, und das bis an die Grenzen einer Vorstellbarkeit, die nichts anderes als das Weltenhafte ist, die Welt und ihre Erfindung – weil die Dinge eben nur existieren, wenn man an sie glaubt. ■

Thomas Sautner
Die Erfindung der Welt
Roman. 400 S., geb., € 24 (Picus Verlag, Wien)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.03.2021)


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