Auf ein Kaffeetscherl in Marseille

Eine Reise zur größten armenischen Community Westeuropas

Der alte Hafen in Marseille
Der alte Hafen in MarseilleAPA/AFP/NICOLAS TUCAT
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In Marseille geriet ich in Euphorie: Ich träumte mich in der ranzigen Bar „Cilicie“ in das mittelalterliche Armenier-Reich Kilikien am Ostufer des Mittelmeers hinüber und buchte Billigflüge nach Beirut und Jerewan.

Nun, da CoV die europäischen Verbindungen gekappt und da Armenien den zweiten Karabach-Krieg verloren hat, muss ich noch einmal nach Marseille. Das letzte Mal, vor wenig mehr als einem Jahr, entdeckte ich hier die größte armenische Community Westeuropas. Bis zu 50.000 Marseiller sollen armenische Wurzeln haben. Ich geriet in Euphorie: Ich träumte mich in der ranzigen Bar „Cilicie“ in das mittelalterliche Armenier-Reich Kilikien am Ostufer des Mittelmeers hinüber, sah mich im Beiruter Armenier-Viertel Bourj Hammoud kaffeetscherln und buchte Billigflüge nach Beirut und Jerewan. Diese Flüge wurden alle gestrichen.

Jetzt komme ich mit dem Auto. Im Viertel Beaumont, das auf einem schrägen Plateau über Marseille liegt, sind alle drei Einwanderungswellen versammelt. Die teils mit Meerblick gesegneten Villen wurden unmittelbar nach dem Genozid gebaut, später spülte der libanesische Bürgerkrieg Armenier an, Einwanderer der dritten Welle (Armenien, Syrien) haben zwei, drei ärmliche Lebensmittelläden.

Damals, 2020, lernte ich drei Armenier um die 60 kennen. In einem der Cafés, in denen unablässig Wettzettel zerknüllt und auf den Boden geworfen wurden, traf ich einen seit 35 Jahren in Beaumont ansässigen Beiruter. Er war ein von billiger Massenware ruinierter Schuster. „Ich spreche sechs Sprachen“, prahlte er, „auch Türkisch und Kurdisch. – „Wozu Türkisch und Kurdisch?“ – „Die sind jetzt im Konflikt, beim Genozid waren sie aber dieselbe Scheiße. Wir mussten alle in der Familie Türkisch und Kurdisch lernen.“ – „Um den Feind zu verstehen?“ – „Ja. Um zu wissen, was sie vorhaben.“

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