Plattenkritik

Neues Album von Charles Lloyd: Das Gebet eines Saxofons

Er liebt es, über Popthemen zu meditieren: Saxofonist Charles Lloyd.
Er liebt es, über Popthemen zu meditieren: Saxofonist Charles Lloyd.Blue Note/Dorothy Darr
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Jazzsaxofonist Charles Lloyd präsentiert mit „Tone Poem“ sein drittes Album mit den Marvels, zu denen auch Bill Frisell gehört.

Der Jazzsaxofonist Charles Lloyd war schon in den Sechzigerjahren an Pop und Rock interessiert: 1968 trat er mit Rockmusikern wie The Herd im legendären Fillmore West auf; 1971 arbeitete er auf seinem Album „Warm Waters“ mit Brian Wilson und Dave Mason zusammen. Danach hat er immer wieder die Melodie eines Popsongs in die lichten Höhen seines Spiritual Jazz gehoben. Auf dem dritten Album seiner 2016 gegründeten Band The Marvels begrübelt er nun „Anthem“ von Leonard Cohen.

An diesem Song hatte Cohen ein Jahrzehnt lang immer wieder gefeilt, ihn dreimal aufgenommen, bis er endlich halbwegs zufrieden war. „Wenn man lang genug bei einem Song bleibt, wird er einmal nachgeben“, erklärte er selbst. Dieses permanente Befragen des Materials ist der Arbeitsweise von Jazzmusikern durchaus verwandt. Und ähnlich wie Cohen hat auch Lloyd versucht, das eigene Ego mithilfe der Zen-Meditation zu überwinden. In „Anthem“ meditieren er und Greg Leisz an der Steel Guitar über die Essenz dieser schlichten Melodie, die hier in vollster Country-Schönheit erblüht.

Rock, Latin, Jazz und Country, das alles wird im Marvels-Universum zelebriert. Wenn es sein muss, auch mehrfach. „Monk's Mood“, ein Stück, das dieses dynamische Quintett schon auf dem Vorgängeralbum geherzt hat, wird hier nochmals in die Mangel genommen und erstrahlt auf „Tone Poem“ in einer höchst lyrischen, zehneinhalbminütigen Festtagsausgabe. Hochglanz strahlt das Album auch deshalb aus, weil es als erstes aktuelles Album in der audiophilen „Tone Poet“-Serie von Blue Note erschienen ist, in der sonst nur Raritäten aus der Vergangenheit aufgelegt werden.

Zwei Stücke von Ornette Coleman

Die Tradition ist Lloyd und Freunden sowieso Ehrensache. Das Album beginnt mit zwei Stücken des Bilderstürmers Ornette Coleman: erst das still simmernde „Peace“, dann rollt „Ramblin'“ ans Ohr, dominiert von einem gewaltigen Gitarrengroove Bill Frisells und Lloyds japsendem Tenorsaxofon. „Lady Gabor“ aus der Feder des ungarisch-amerikanischen Gitarristen Gábor Szabó hat etwas von einer frühen Santana-Nummer: Lloyds sanft gespielte Altflöte balanciert geschickt zwischen heftiger Perkussion und flamboyanten Gitarrenlinien. Ganz wunderbar ist, dass Lloyd ein intellektuelles Schwergewicht wie Bill Frisell auf den gefährlichen Pfad der kubanischen Schnulze „Ay Amor“ lockt. Komponiert wurde das Stück von Ignacio Jacinto Villa y Férnandez (1911–1971). Der rundliche Afrokubaner wurde unter seinem Spitznamen Bola de Nieve (Schneeball) berühmt. Mit Lloyds still köchelnder Version wäre er wohl zufrieden: Sie tut der gnadenlos ins Gemüt fahrenden Melodie nichts zuleide.

Das abschließende, melodisch ebenfalls starke Stück „Prayer“ richtet den Blick himmelwärts: Sanft angewandte Überblastechnik, hauchzarte Wimmerklänge der Steel Guitar und Beserlschlagzeug charakterisieren diese Art von Gottesanrufung, wie sie Lloyd im Lauf seiner langen Karriere immer wieder getätigt hat. Auf dem Cover nennt er die Menschen, für die er betet, listet die Vornamen jener auf, deren Stimmen durch US-Polizeigewalt zum Verklingen gebracht wurden. Selten hat ein Saxofon schöner gebetet.

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