Amanshausers Album

Reise in den Kindheitsgarten

Symbol des intakten Kindheitsgartens: Das Tuskulum, errichtet 1926 oder in den Folgejahren.
Symbol des intakten Kindheitsgartens: Das Tuskulum, errichtet 1926 oder in den Folgejahren.Martin Amanshauser
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Wer in einem Garten aufgewachsen ist, findet oft nie mehr einen anderen. Und meidet Topfpflanzen.

Ich bin mit einem, ja in einem Garten am Nordrand der Alpen aufgewachsen. Er schmiegte sich an einen steilen Abhang aus Kreidezeit-Konglomerat und Mergel. Überall wuchsen hohe Bäume, die manchmal umstürzten. Auf einer Wiese mit Gänseblümchen, ungefähr in der dreifachen Größe eines Fußballstrafraums, gesäumt von Blumenbeeten, spielte ich Ball. Keine leichte Aufgabe. Eine sinistere Macht scheint Fußbälle immer in Richtung frisch gepflanzter oder in Blüte stehender Pflanzen zu lenken. Rosen erholen sich vom Beschuss erfahrungsgemäß ausgezeichnet, doch so eine Akelei ist mir nichts, dir nichts in Fetzen geschossen.

Pflanzenrechte gegen Kinderwohl

Mein Vater und meine Tante vertraten konsequent die Pflanzenrechte, sie kritisierten kopfschüttelnd meine Schusstechnik, während meine Mutter und mein Onkel nach ausführlicher Güterabwägung das Bewegungsbedürfnis eines Kindes, wie ich annahm, über das Pflanzenwohl stellten. Ich selbst sah mich als Pflanzenfreund, doch stand ich auf der Seite der Gänseblümchen, der floralen Arbeiterklasse. Ich litt, weil man diese Schönheit regelmäßig genozidhaft ­niedermähte.

Das Prunkstück des Gartens war ein ­heruntergekommenes rosa-türkises Gartenhäuschen aus den Zwanzigerjahren. Wir nannten es „Tuskulum“. Es diente Vorgenerationen mit bürgerlichen Ambitionen als Teehaus. Mein Vater renovierte das Tuskulum in den Siebzigerjahren, er deckte das Dach neu, doch seine ursprüngliche Bestimmung ließ sich nicht mehr herstellen. Es diente zeit­lebens in herrlicher Nutzlosigkeit als Werkzeugablagehäuschen und wilden Katzen als Dach über dem Kopf. Im 21.  Jahrhundert zeigt es Auflösungstendenzen. Zu Winterbeginn rätselt man meist, ob das Tuskulum den nassen Schnee übersteht, ob es von niederstürzenden Bäumen zertrümmert wird. Mit ihm wird eines Tages meine Idee des perfekten Gartens zusammenbrechen. Als Erwachsener hege ich keine Gartenfantasien mehr. Meine Vorstellung von Kindheit ist nicht verpflanzbar, eine Rückreise unmöglich. Vielleicht meide ich deshalb in meiner Stadtwohnung Topfpflanzen. Nur manchmal hol ich mir ein Basilikum aus dem Lidl. 

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