Shitstorm

„Cancel Culture“-Streit um ungarische Autorin Krisztina Tóth

(c) Marjai Judit
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Sie würde einen Roman des ungarischen Nationaldichters Mór Jókai aus dem Lehrplan entfernen, ginge es nach ihr, sagte Schriftstellerin Krisztina Tóth: Seitdem wird sie massiv attackiert - und international verteidigt.

Begonnen hatte alles vor Wochen mit einem Interview: Ein Literaturblog hatte Fragen an ungarische Autorinnen und Autoren verschickt. Darunter die, welche Bücher sie aus dem Lehrplan an Schulen entfernen würden. Die 53-jährige Krisztina Tóth hatte daraufhin einige Klassiker angegeben und Werke zeitgenössischer Autorinnen als Alternativen vorgeschlagen. Nach kritischen Berichten in mehreren Medien ist sie in ihrem Land seitdem einer Flut von Beleidigungen und Drohungen aus den Sozialen Netzwerken ausgesetzt. Sie traue sich kaum noch auf die Straße, sagte Krisztina Tóth. In den Attacken sieht sie – aufgrund von Ähnlichkeiten mit früheren Aktionen – eine gezielte Kampagne regierungsnaher Medien.

Dass dieser Shitstorm so gewaltig ist, hat wohl auch damit zu tun, dass einer der von ihr genannten Klassiker, Mór Jókai, in Ungarn zu den wichtigsten Nationaldichtern zählt. In seiner Jugend gehörte er zu den Revolutionären vom März 1848, politisch war er ein Liberaler. Ab der Mitte des 19. Jahrhunderts schrieb er historische Romane zur ungarischen Geschichte, die ihn zum beliebtesten ungarischen Autor machten. Außerdem ist er mit seinen utopischen Romanen ein Vorläufer der Science-Fiction.

Sisi las seine Bücher im Original

Kaiserin Sisi zählte einst zu seinen Fans – sie las seine Bücher, die sie von ihm mit Widmung überreicht bekam, im ungarischen Original. Auch mit Kronprinz Rudolf war Jókai befreundet.

Gelesen wird Mor Jókai immer noch, nicht nur an den Schulen. In der Öffentlichkeit hat er außerdem politische Symbolkraft durch seinen Patriotismus und seinen Einsatz für die ungarische Sprache und Literatur. Der von Tóth kritisierte Roman „Az aranyember“ („Ein Goldmensch“) gehört zu den beliebtesten Werken der ungarischen Literatur. Aber die Frauengestalt des Romans entspricht tatsächlich nicht heutigen Frauenidealen: Sie liebt ihren Mann nicht, hält ihm aber dennoch die Treue, führt ihm den Haushalt und unterstützt ihn, wo sie nur kann.

Viele Kunst- und Autorenverbände im In- und Ausland haben in den vergangenen Tagen ihre Solidarität mit Krisztina Tóth bekundet. Die ungarische Szechenyi-Akademie für Literatur und Kunst verurteilte die „politisch motivierten Angriffe und Drohungen“ gegen ihr Mitglied. In Österreich setzte sich die Grazer Autorinnen Autorenversammlung (GAV) früh für Tóth ein. Gemeinsam mit weiteren österreichischen Literaturverbänden hat sie an den ungarischen Botschafter in Wien geschrieben: Darin ist von „rassistischen und sexistischen Angriffen und Beleidigungen von regierungsnahen Medien, Fidesz-getreuen und rechtsextremen Journalistinnen und Journalisten“ gegen die Autorin die Rede.

Collegium Hungaricum: keine „orchestrierte Kampagne"

Eine Antwort auf diesen Brief kam nun vom Direktor des ungarischen Kulturinstitutes Collegium Hungaricum Wien, Anzelm Barany. Die Behauptungen hinsichtlich rassistischer und sexistischer Angriffe der regierungsnahen Medien seien „leider mit keinem einzigen Zitat“ belegt, schreibt er. Und trotz ausgiebiger Recherchen habe er in den Artikeln der ungarischen Presse keine solchen Attacken finden können. Es gebe keinen Grund, „hinter der manchmal groben Sprache und den bedauerlichen Beleidigungen eine von den Regierungskreisen orchestrierte Kampagne“ zu sehen. Seit der Machtübernahme der jetzigen Regierungskoalition im Jahr 2010 habe Tóth in Ungarn ungehindert 13 Bücher veröffentlicht, und bei Drohbriefen rate er zur Anzeige.

In deutscher Übersetzung sind zwei Bücher von Tóth erhältlich: der Erzählband „Pixel“ (2011) und der mit Beifall aufgenommene Roman „Aquarium“ (2015). In Letzterem erzählt Tóth autobiografisch vom Leben dreier Generationen einer „Unterschichtfamilie“ am Rand von Budapest.

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