Deutschunterricht: Die verstaubten Bestseller

Deutschunterricht verstaubten Bestseller
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Seit Generationen lesen wir die immer gleichen "Klassiker" im Deutschunterricht. Zu Recht? Die Diskussion, ob es eine festgesetzte Auswahl an Klassikern geben soll, tobt schon lange.

Auf seine gelbe Reclam-Ausgabe von Goethes „Faust“ hat Benjamin einen Sticker geklebt: „Bestseller“ steht darauf. Seit der 16-Jährige auf Klassenreise in Weimar war und an einer Schnitzeljagd auf den Spuren von Goethe und Schiller teilnahm, ist er ein Fan der Weimarer Klassik. „Vor allem ,Die Leiden des jungen Werther‘ hat mich berührt. Es ist ein altes Werk mit aktuellen Themen – ein Klassiker eben.“

So eindeutig ist die Bewertung der Werke, die im Deutschunterricht gelesen werden, jedoch selten. Die Diskussion, ob es einen „Literaturkanon“, eine festgesetzte Auswahl an Klassikern geben soll, tobt schon lange: Im Jahr 1670 verfasste der französische Bischof Pierre Huet mit „Traktat über den Ursprung der Romane“ die erste westliche Literaturgeschichte. Und doch ist man sich bis heute nicht einig, was einen „Klassiker“ ausmacht. Ergibt sich der hervorgehobene Wert aus dessen Thema, Sprache oder Originalität? Und wer kann dies beurteilen?

„Heimlicher Literaturkanon“

Die österreichischen Lehrpläne für den Literaturgeschichtsunterricht, der Teil der Deutschstunden an den AHS- und BHS-Oberstufen ist, entzieht sich seit den 1970er-Jahren dieser Diskussion, indem einfach keine Werke mehr vorgegeben werden. Stattdessen heißt es etwa im AHS-Lehrplan von 2003: „Auszuwählen sind Texte, die repräsentativ für ihre Epoche sind, Bezüge zur Gegenwart aufweisen und das Interesse der Schülerinnen und Schüler erwecken.“ Somit entscheidet der Lehrer, welche Epochen – von Mittelalter- bis Gegenwartsliteratur – und welche Werke die Schüler interessieren.

Es gebe aber durchaus einen „heimlichen Kanon“, sagt Stefan Krammer, Leiter des Fachdidaktischen Zentrums Deutsch an der Universität Wien: „Gewisse Texte bleiben im kollektiven Gedächtnis. Sowohl Lehrer als auch Schüler wollen sie dann lesen.“ Solche Traditionen sollten jedoch gelegentlich auch aufgebrochen werden, kritisiert Krammer.

Während nach wie vor in Österreich kaum jemand maturiert, ohne zumindest im Internet gefundene Zusammenfassungen von „Faust“, „Nathan der Weise“ & Co. gelesen zu haben, unterliegen andere Literaturepochen durchaus Trends – und dem Zahn der Zeit: „Früher war Hermann Hesse ein Muss. Heute sind Thomas Bernhard und Peter Handke heimliche Klassiker der Moderne“, beobachtet Karl Blüml, Landesschulinspektor in Wien mit dem Schwerpunkt Deutsch.

Transkulturalität im Lehrplan

Mit Schaudern erinnert sich Laura (22) an ihren Literaturunterricht an einer Wiener AHS zurück: „Wir haben jede Zeile zermalmt. Das hat den Büchern jede Spannung genommen. Es ist nicht mehr interessant, über jedes Wort nachzudenken.“ Experten sind mit ihr einer Meinung. Viel mehr als um die Texte selbst geht es um den richtigen Zugang. Lehrer müssen den Schülern vermitteln können, dass alte, teilweise schwer zugängliche Texte ihnen für ihr Leben Relevantes sagen können.

Ob nun im Unterricht der Hollywood-Film „Braveheart“ geschaut wird, um den Schülern ein besseres Bild vom Mittelalter zu geben, Werke weitergeschrieben oder szenisch nachgestellt werden – Jugendliche müssen in ihrer Erfahrungswelt „abgeholt“ werden.

Was tun, wenn der Deutschunterricht auch Jugendliche erreichen soll, die einen anderen sprachlichen und kulturellen Hintergrund haben? Das Pilotprojekt „Transkulturelle Literaturdidaktik in der Schulpraxis“ von der Alpen-Adria-Universität zeigt es. An neun Schulen in Wien und Klagenfurt wurde im Schuljahr 2008/09 im Deutschunterricht gemeinsam mit Schülern und Lehrern geforscht. Ziel war es, so Projektleiterin Theresia Ladstätter, „das Andere kennen zu lernen und Fremdes aufzuspüren“.

So kam es etwa neben dem Auffinden von slawischen Mythen in Grillparzer-Werken zur Erkenntnis, dass von Mehrsprachigkeit im Unterricht besonders jene profitieren, deren Erstsprache Deutsch ist. „Die Neugierde wird geweckt, weil es mehr Möglichkeiten gibt.“

Lessings „Nathan der Weise“ predigt Toleranz, während Schiller in „Wilhelm Tell“ das Dilemma Tyrannenmord erörtert und Thomas Bernhard Sozialkritik übt. Das sind wichtige Botschaften – aber kann man die nicht besser im Internet-Lexikon Wikipedia nachlesen und, anstatt Versmaße zu zählen, sich gezielt auf das „richtige Leben“ vorbereiten?

Bildung statt Ausbildung

Verfechter des klassischen Bildungsbegriffs sehen gerade im Fehlen einer „schnellen Verwertbarkeit“ von Literaturkunde ihre Daseinsberechtigung: „Man dringt in Schichten von verschlossenen Welten ein – vor allem, indem man den Umgang mit poetischer Sprache übt. Und das ist essenziell zur Persönlichkeitsentwicklung“, sagt Leopold Moser, Deutschlehrer am Döblinger Gymnasium in Wien.

Bildung dürfe nicht mit Ausbildung verwechselt werden, warnt er. Und schon gar nicht sollte man den gesellschaftskritischen Wert von Literatur unterschätzen. Dem kann auch der Literaturwissenschafter Bernhard Fetz zustimmen: „Wer sich mit Literatur beschäftigt, lernt, dass es oft keine einfachen Lösungen gibt und gesellschaftliche Probleme der Kompromisse bedürfen.“

Einen besseren Lehrer als Doktor Faust, der einen Pakt mit dem Teufel schließt, könnte es wohl kaum dafür geben. [Foto: Fabry]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.09.2010)

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