Sind die Werke eines betrunkenen Wilden aus Stratford-upon-Avon in Zeiten der Cancel Culture sensiblen Gemütern noch zuzumuten? Diese moralisch anmutende Frage ist gar nicht so neu.
Es war nur noch eine sentimentale Erinnerung und ein Zufallsfund. Nach vielen Jahren fiel dem „Presse“-Redakteur eine alte DVD in die Hände: William Shakespeares Tragödie „Othello“, die auf Filmlänge gekürzte Aufzeichnung der Inszenierung von George Tabori im Akademietheater. Die Aufführung von 1990 war ein Höhepunkt der Ära des Burgtheaterdirektors Claus Peymann.
Beinah fünf Stunden dauerte damals die Premiere. Sie sei so einhellig gefeiert worden wie wohl kaum eine andere dieser Intendanz zuvor, befand das deutsche Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“. Sein Kritiker beschrieb Gert Voss in der Rolle des Titelhelden als tapsiges, rührendes Monster, „halb edler Wilder, halb gemütlicher Brummbär. Auch wenn er die Augen aufreißt und es weiß aufblitzt aus seinem kohleschwarzen Mohrengesicht – so richtig gefährlich wirkt der mächtigste Krieger des Dogen nicht.“