Mein Dienstag

Atemlos durch die Pandemie

Die Presse/Clemens Fabry
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Jemanden kennenlernen und Nähe zulassen – an diesem Tag beginnt das Leben von neuem.

Es gibt da diese Szene in dem deutschen Film „Nichts bereuen“ aus dem Jahr 2001. Daniel Brühl, der einen smarten und nachdenklichen 19-Jährigen spielt, küsst irgendwo in einem Park Jessica Schwarz, in die er seit vier Jahren heimlich verliebt ist. Außer sich vor Euphorie geht er unmittelbar danach ein paar Schritte auf die Kamera zu, richtet sich direkt ans Publikum und sagt: „Wenn die Luft, die sie ausatmet, besser riecht als die Luft drumherum, dann ist sie es.“

Jeder kennt dieses Gefühl. Diesen Rausch. Diesen einen Atem, mit dem sich alle folgenden messen müssen, an den aber nie wieder einer heranreicht. Es soll sogar Menschen geben, bei denen diese Erfahrung derart prägend ist, dass sie nicht die Augen, das Gesicht oder die Stimme als Spiegel der Seele betrachten, sondern den Atem. Er verrät einfach alles, was man über sein Gegenüber wissen muss. Binnen Sekunden entscheidet er über Sympathie und Abneigung, Anziehung und Abstoßung, Vertrauen und Argwohn – auch bekannt als erster Eindruck, und für ihn gibt es nun einmal keine zweite Chance.

Diesen Menschen hat die Pandemie mit ihren – selbstverständlich notwendigen und sinnvollen – Abstands- bzw. Maskenregeln etwas genommen, das für ihre Emotionalität, ihre Fähigkeit zur Begeisterung und Leidenschaft unverzichtbar ist. Als würde man einem Künstler seine Inspiration und Kreativität nehmen, einem Sportler seine Kraft und Ausdauer.

Eine der vielen Nebenfronten dieser Auseinandersetzung mit einem unsichtbaren Feind, die angesichts dessen tödlicher Gefahr marginal wirkt – und wohl auch ist. Dennoch wird für viele der Tag, an dem es wieder möglich ist, jemanden kennenzulernen wie früher – ihn oder sie einzuschätzen, näher kommen zu lassen und zu umarmen –, jener Tag sein, an dem ihre Lebensgeister geweckt werden. An dem sie wieder in ihrer Seelenfrequenz senden und empfangen. An dem ihre persönliche Coronakrise endet.

E-Mails an: koeksal.baltaci@diepresse.com

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