„Sich rauslehnen und etwas trauen“

Karin Simonitsch, Marien-Apotheke
Karin Simonitsch, Marien-ApothekeÁkos Burg
  • Drucken

Porträt. Zuhören und Bedürfnisse erkennen: Karin Simonitsch zeigt mit ihrer Marien-Apothekein Wien, wie man Nischen für sich erschließen und viel für die medizinische Versorgung tun kann.

Der Blick geht automatisch nach oben, betritt man das „Mariechen“, wie die Belegschaft die Marien-Apotheke im 6. Wiener Gemeindebezirk liebevoll nennt. Das Licht von der Decke strahlt durch die Abfälle aus der Verblisterung: Aus alten Tabletten-Sichtverpackungen gestaltete das Wiener Designerduo von Walking Chair Lampen. Das ist stimmig, weil die Zweitverblisterung eine der Nischen ist, die Simonitsch 2007 erschlossen hat. Das bedeutet: Für die Bewohner von Senioren- und Pflegeheimen, aber auch Privatpersonen werden Medikamente individuell verpackt und abgestimmt auf Tag und Uhrzeit für die Einnahme eingeteilt.

Das Innere der Marien-Apotheke
Das Innere der Marien-ApothekeFidel Peugeot

Schon bald nachdem sie Anfang der 1990er-Jahre die Apotheke von ihrer Mutter übernommen hatte, nahm sie sich einer anderen Nische an. 1994, erzählt sie, hatte sich ein HIV-infizierter Patient mehr oder weniger in ihre Apotheke „verirrt“. Es gab für die Infizierten kaum Unterstützung, sie waren stigmatisiert und die Krankheit kam einem Todesurteil gleich. Dabei war damals schon klar: „Man muss sich schon sehr, sehr nahe kommen, um sich anzustecken“, sagt Simonitsch. Sie engagierte sich persönlich, brachte die Medikamente zum Teil auch ans Krankenbett. Heute ist die Marien-Apotheke die größte auf HIV-spezialisierte Apotheke Wiens.

Ernst Molden schrieb ein Lied für sie

Eine andere Besonderheit begleitet die Apotheke seit 2008: Damals nahm Simonitsch erstmals einen gehörlosen Lehrling auf. Es folgte ein zweiter, 2013 bewarb sich Sreco Dolanc – Magister der Pharmazie. Simonitsch engagierte ihn und er wurde Österreichs erster gehörloser Offizin-Apotheker. Weil sie schnell realisierte, dass es so gelinge könne, die nicht kleine Zahl an gehörlosen Menschen zu versorgen. Mittlerweile betreuen nicht nur die gehörlosen Mitarbeiter die Kunden in Gebärdensprache, auch einige „hörende“ Mitarbeitende beherrschen die Gebärdensprache. Keine Frage, dass im Video zum „Abodeggn“-Lied, das Ernst Molden für sie geschrieben hat, der Text ebenfalls in Gebärdensprache übersetzt wurde.

Manchmal, sagt Simonitsch, „muss man sich rauslehnen und sich etwas trauen“. Auch wenn das Anfeindungen mit sich bringt: „Wenn man das von Anfang an wüsste, täte man's vielleicht nicht.“ Aber sie sei eben ein Trendscout, sagt Simonitsch. Doch nicht, weil sie in dieser Hinsicht kommerziell getrieben ist, sondern weil sie Bedürfnissen nachspürt.

Denn, davon ist sie überzeugt, „die Apotheke ist ein niederschwelliger Zugang zum Gesundheitssystem. Kunden können oft nicht sagen, was ihnen fehlt. Wir spielen dabei eine wichtige Rolle, draufzukommen und weitere Schritte zu empfehlen“. Daher brauche sie „Mitarbeitende, die Wärme vermitteln, die das Gegenüber genau beobachten und authentisch sind“. Die Gehörlosen im Unternehmen seien dabei eine gute Kontrolle: „Sie durchschauen, ob etwas echt ist.“

Hard selling ist kein Thema

„Seit dem ersten Lockdown ist viel zu tun“, der Umsatz aber ging um zehn Prozent zurück. In der Apotheke könne man sich anonym beraten lassen – der Umsatz hingegen komme erst mit dem Kauf. „Das Konzessionssystem erspart hard selling“, sagt sie, aber auch: „Apotheken sind sowohl wissenschaftliche Institutionen als auch wirtschaftlich zu führende Unternehmen.“ Die wissenschaftliche Komponente komme manchmal zu kurz: „Das Medikationsprofil ist oft ein Zufallsprodukt“, sagt sie, „die Galenik liegt brach.“ Anders gesagt: Das Fachwissen der Apotheker wird bei der Medikation zu wenig berücksichtigt.

Ihre 50 Mitarbeitenden hat sie in zwei Teams geteilt, um während der Öffnungszeit personelle Überschneidungen zu vermeiden: „Wir dürfen nicht ausfallen.“

Sie selbst versucht, sich aus dem Tagesgeschäft herauszuhalten: „Ich will schauen, wohin die Reise geht.“ Etwa in Sachen Umwelt: Sie schloss sich dem Klimaneutralitätsbündnis 2025 an, um den Fußabdruck zu minimieren und „ihn nicht nur durch Zahlungen zu kompensieren“. Schließlich möchte sie die Apotheke, die ihre Großmutter 1934 übernommen hat, gut an die nächste Generation weitergeben.

Zur Person

Karin Simonitsch (57) führt die Marien-Apotheke in Wien in dritter Generation. 1934 übernahm Doris Schmatt, Simonitsch' Großmutter, das 1909 gegründete „Mariechen“, wie die Belegschaft das Unternehmen liebevoll nennt. Bekannt ist die Marien-Apotheke auch, weil sie sich als Anlaufstelle für HIV-Infizierte und Gehörlose etabliert hat und Zweitverblisterungen anbietet.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.04.2021)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.