Ist es indiskret, einen Schlafenden zu beobachten?
Schlaf

Im Schlaf steckt die Kraft der Rebellion

Wer schläft, hört nicht, und wer nicht hört, kann auch nicht gehorchen. Schlafen heißt, sich der Welt und ihren Anforderungen zu verweigern. Geschlossene Augen können eine subversive Geste sein.

Ist der Schlaf überhaupt ein philosophisches Problem? Die Philosophie hat es grundlegend mit dem Wachbewusstsein zu tun, nicht mit dessen Abwesenheit. In der modernen Anthropologie spielt das Phänomen des Schlafes eine untergeordnete Rolle, was verwundern könnte, verbringen wir durchschnittlich doch etwa ein Drittel unseres Lebens schlafend. Doch der Schlaf wird in der Regel vom Wachzustand her interpretiert, und es stellt sich eher das Problem, ob der schlafende Mensch im vollen Sinn des Wortes noch Mensch ist, fehlen ihm doch im Schlaf jene Merkmale, die das Menschliche am Menschen markieren: Bewusstsein, Reflexivität, Artikulationsvermögen, Ansprechbarkeit, Kommunikationsfähigkeit und vor allem: Aktivität. Es ist, wie Günther Anders, dem wir eine der seltenen philosophisch-anthropologischen Reflexionen über den Schlaf verdanken, schrieb, „in der Tat der wache Mensch, der auch schläft, und nicht der schlafende, der auch wacht“. Wir verschlafen fast ein Drittel unseres Lebens. Etwas verschlafen, das bedeutet ja: Man hätte an irgendetwas teilhaben sollen, man hätte ein Verhältnis zur Welt gestalten sollen, man hätte wach sein sollen und hat es nun eben verschlafen, versäumt, war nicht zur Stelle. Bis heute gilt eine möglichst geringe Zahl von Stunden, die man zum Schlafen benötigt, als Ausweis besonderer Tüchtigkeit. Nur den Seinen gibt's der Herr im Schlafe, alle anderen müssen munter, aktiv, wenigstens bereit sein. Substanzen und Stoffe, die den Schlaf vertreiben und es erlauben, sich wach zu halten, gehören deshalb zu jeder Kultur einer rastlosen Aktivität.

Auch aus ethischen Diskursen kennen wir eine Thematisierung des Schlafes, die nicht an diesem, sondern nur an den Konsequenzen einer Abwesenheit des Wachzustandes interessiert ist. Bei Konzepten, die den moralisch relevanten Status des Menschen an die Vernünftigkeit binden, seine Personalität und Würde mit der Fähigkeit der bewussten Wahrnehmung und der Artikulation von Interessen assoziieren, stellt sich sofort die Frage, ob diese Bestimmungen überhaupt für Schlafende gelten können. Der Schlaf wird hier als Folie gedeutet, vor der sich eigentliches Menschsein, das durch Selbstbewusstheit, Vernünftigkeit und Wachheit bestimmt ist, abzeichnet. Pointiert formuliert: Die Menschenrechte sind für Schlafende nur zu retten, weil man diese als noch nicht ganz Wache interpretiert. Der Schlaf schließlich, aus dem es kein Erwachen mehr gibt, erweist sich nicht als eine Form des menschlichen Lebens, sondern als dessen auf Dauer gestellte Schwundstufe.

Das Koma wird von manchen Ethikern als nichtmenschlicher Zustand definiert, dies mündet in der Empfehlung, komatöse Patienten nicht länger am Leben zu erhalten. Der allnächtliche Schlaf erscheint aus dieser Perspektive als eine gerade noch geduldete Unterbrechung des Menschseins. Und jenseits dieser ethischen Fragestellungen interessiert der Schlaf bestenfalls noch als Grenzfall eines psychologischen Phänomens, etwa wenn es um den Halbschlaf geht, um Tagträumerei, Versunkenheit, somnambule Zustände, auch um rauschhafte Erfahrungen der Entgrenzung, die an Formen der Bewusstseinstrübung gemahnen, wie man sie in schlafähnlichen Zuständen erleben kann. Der Schlaf als Schlaf aber rückt selten in den Fokus des philosophischen Blicks.

Der Satz „Ich schlafe“ kann von niemandem ausgesprochen werden. Wer spricht, schläft nicht, und wer schläft, spricht nicht. Die Worte, die jemand im Schaf murmelt, haben nicht die Evidenz eines „Ich schlafe“. Deshalb gibt es auf die Frage „Schläfst du?“ nur eine mögliche Antwort: Nein. Diese Frage lässt sich nicht bejahen. Wer schläft, bleibt die Antwort schuldig, denn er hat die Frage nicht gehört. Unserem eigenen Bewusstsein bleibt der Schlaf verborgen. Er ist die andere Seite unseres Ichs, die wir nicht erblicken können. Die Erfahrung des Schlafens können wir dann auch nur im Nachhinein machen: Wir wissen, genauer: Wir glauben nach dem Aufwachen zu wissen, dass wir geschlafen haben; während des Schlafens wissen wir nichts von unserem Schlaf.

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