Bewegungsrätsel: Ist es Beweglichkeit, ist es Kraft, ist es Koordination, die uns fehlt?
Bewegung

Ein Cirque-du-Soleil-Artist als Fitnesstrainer

Meiner neu entdeckten Liebe für verschollene Bewegungsmuster entsprechend, engagierte ich einen Cirque-du-Soleil-Artisten, um mit mir Akrobatik zu trainieren. Die ersten Rückwärtssalti fühlten sich an wie ein Sprung in den Tod.

Im Grunde bin ich das, was man einen sogenannten Geistesmenschen nennen würde: eine Schriftstellerin, jene Art Person, von der man erwartet, dass Gewichte zu heben sie für prinzipiell antiintellektuell hielte. Jedoch habe ich mir in meiner Kindheit eine lebenslange Leidenschaft für Bewegung eingefangen: Ich bin hoch kompetitiv und habe übermäßigen Hunger nach physischer Intensität – nach Grenzerfahrungen, die unserer berührungs- und an Extremen armen Gesellschaft weitestgehend verloren gegangen sind.

Zunächst also besuchte ich ein Sportgymnasium. Überraschenderweise verdichtete sich meine Leidenschaft für Bewegung nach der Matura. Ich lief Marathon, begann zu klettern, exzessiv Gewichte zu heben und konzipierte eine dreistündige Sportperformance über Körperkult namens Literazah mit meinem Kollegen Jan Zimmermann. Vor allem aber entdeckte ich meine große Liebe, das Rudern, und bestreite seit meinen frühen Zwanzigern Regatten. Trotz dieser Obsession ist es jedoch noch nicht lange her, dass ich zu verstehen begonnen habe, was Bewegung im Kern wirklich ist. Lassen Sie mich erklären.

Natürlich hat diese Erkenntnis, wie fast alles dieser Tage, mit Corona zu tun: Im März 2020 wurde mein schlimmster Albtraum wahr: Die Sportstätten schlossen. Auf den Garten meiner Eltern zurückgeworfen, konstruierte ich aus der Not die sehr primitive Form eines Ninja-Gartens: Taue, Gymnastikringe, Parcours, zwei Kurzhanteln, ein Medizinball, eine Slackline, Crashpads und Matten für Akrobatik und Jonglierutensilien – das war für drei Monate meine Spielwiese. Nach einigen Wochen des auf dem Bodenrollens, Überschlagens, Hängens, Kletterns, Fallens, Laufens, Werfens und Springens war ich nicht nur in der Form meines Lebens, sondern es hatte in aller Stille ein Paradigmenwechsel stattgefunden, wie ich Bewegung, aber auch ein geglücktes Leben an sich für mich neu ordnete.

Und das ging so: Meiner neu entdeckten Liebe für lange verschollene Bewegungsmuster entsprechend, engagierte ich im Juni einen Cirque-du-Soleil-Artisten, um mit mir basale Akrobatik zu trainieren. Die ersten Rückwärtssalti fühlten sich an wie ein Sprung in den Tod. Als ich am Abend im Bett lag und die Rotation sich immer wieder abspielte, hatte ich ein Gefühl, das ich seit 20 Jahren nicht mehr erlebt hatte: eine genuin neue Empfindung. Mein Körper hatte eine Bewegungsachse begriffen, die er nie zuvor gemacht hatte, und es war zu meinem großen Erstaunen nicht weniger intensiv, als etwa zum ersten Mal das Meer zu sehen.

Als wäre durch diese Handlung eine Tür aufgegangen, von der einem eingeredet wird, sie sei mit der Kindheit zuzementiert worden. Das Vorurteil, dass Dinge in dieser Gefühlsqualität sich für Erwachsene nicht mehr ereignen, war durch Bewegung aufgelöst worden – kein analytisches Nachdenken hätte diese Überzeugung je verändern können. In Folge dieses Erlebnisses beschäftigte ich mich näher mit dem System des israelischen Movement-Lehrers Ido Portal, von dem viele Einsichten dieses Textes auf die ein oder andere Weise inspiriert sind.

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