Und in der Früh stelle ich mich vor den Spiegel und ziehe die Lippen rot nach, das sieht nach Frühling aus, auch wenn das unter der Maske niemand bemerkt.
Das ging aber rasch. Von einer Woche zur anderen. Schmolz da nicht eben noch eine Schneeflocke auf meiner Stirn? Lief ich nicht mit eingezogenem Kopf durch die Stadt? Und jetzt, zack, Frühling. Da blüht alles zugleich, was sich in anderen Jahren nur nach und nach und ganz zögerlich hervorwagt, hier eine Knospe und da ein Blättchen, erst der Goldflieder, dann die Kirsche, später die Ringlotten im Beserlpark. Aber heuer, ja heuer konnte es die Natur anscheinend gar nicht erwarten, alles ist plötzlich Rosa und Weiß und Gelb, das wuchert und protzt, und ich mittendrin.
Ich mittendrin will auch nicht nachstehen, ich krame nach den bunten Leiberln und flatternden Röcken, die den Winter über im Schrank ganz nach hinten gerutscht sind, ich suche die hellen Schuhe, die mit dem Absatz, ich will auch blühen. Bevor ich aus dem Haus gehe, stelle ich mich vor den Spiegel und ziehe die Lippen rot nach. Obwohl sie ja doch keiner sehen wird, unter der Maske. Obwohl der Lippenstift nur sinnlos Flecken macht, innen, auf dem Vlies, das die Viren abhalten soll.