Der ökonomische Blick

Die Vermögensungleichheit in Europa wird massiv unterschätzt

imago stock&people
  • Drucken

Vermögen sind in ganz Europa sehr ungleich verteilt und das Vermögen der Reichsten wird fast überall unterschätzt. Österreich gehört in gleich zwei Kategorien zu den Extremfällen.

Die Reichsten werden immer reicher. Das beklagen Gewerkschaften und Nichtregierungsorganisationen regelmäßig. Tatsächlich deutet die Evidenz daraufhin, dass der Vermögensanteil der Überreichen im modernen Kapitalismus immer größer wird. Eine steigende Vermögenskonzentration schlägt sich in größerer wirtschaftlicher Gestaltungsfreiheit und politischem Einfluss von immer weniger Menschen nieder. In einer neuen Studie zeigen wir, dass die Vermögensungleichheit in Erhebungen, die oftmals die einzige Datenquelle darstellen, im ganzen Euroraum empfindlich unterschätzt wird.

Ungleichheit ist das Ergebnis politischer Ökonomie

Ungleichheiten prägen heute alle Volkswirtschaften, sie gehören zur DNA des Kapitalismus. Das ist weder unüblich noch unerwünscht. Der Ungleichheitsforscher Thomas Piketty bezieht sich sogar auf Ungleichheitsideologien als zentralen Punkt, durch den sich Wirtschaftssysteme unterscheiden. Weil Vermögen eng mit politischem Einfluss, aber auch mit Lebenserwartung, Gesundheit und gesellschaftlicher Teilhabe zusammenhängt, ist seine Verteilung ein zentrales Thema.

Jede Woche gestaltet die „Nationalökonomische Gesellschaft" (NOeG) in Kooperation mit der "Presse" einen Blog-Beitrag zu einem aktuellen ökonomischen Thema. Die NOeG ist ein gemeinnütziger Verein zur Förderung der Wirtschaftswissenschaften.

Beiträge von externen Autoren müssen nicht der Meinung der „Presse"-Redaktion entsprechen.

>>> Alle bisherigen Beiträge

Das Ausmaß der Ungleichheit variiert zwischen Ländern und Zeitpunkten, sie spiegelt gesellschaftliche Vorstellungen, Machtverhältnisse und wirtschaftliche Dynamiken wider. Diese finden zum Beispiel Ausdruck in der Gesetzgebung und beeinflussen über die Gestaltung von Einkommens-, Erbschafts- und Vermögenssteuern die Verteilung.

Ungleichheit ist also ein Ergebnis der politischen Ökonomie, sie resultiert aus konkreten politischen Entscheidungen und Versäumnissen, sozialen Institutionen und Machtgefällen. Unterschiedliche politische Ökonomien bedeuten nicht nur unterschiedlich viel Ungleichheit, sondern auch unterschiedliche Mechanismen der Vermögensverteilung: Eine Erbschaftssteuer wirkt zum Beispiel ganz anders als eine Kapitalertragssteuer. Sie kommt zum Tragen, nachdem ein Leben lang Vermögen angehäuft wurde und hat meistens umfassende Freibeträge, betrifft dafür aber alle Vermögensarten (zum Beispiel Barvermögen, Immobilien und Schmuck).

Erhebungen erfassen Superreiche kaum

Im Auftrag der Europäischen Zentralbank (EZB) werden in vielen europäischen Ländern Haushaltserhebungen durchgeführt, in denen Vermögen nach einer abgestimmten Definition detailliert abgefragt wird. Gleichzeitig erfasst diese freiwillige Erhebung das Vermögen an der Spitze, zum Beispiel das reichste Prozent, nicht besonders gut. Vermögende sind schwieriger zu erreichen, verweigern häufiger die Teilnahme und unterschätzen ihr Vermögen stärker. Das zeigt der Vergleich von Erhebungsdaten mit Steuerregistern. Kurzum: In den vorhandenen Vermögensdaten fehlen Beobachtungen mit hohen Millionen- und Milliardenvermögen.

In unserer neuen Studie kombinieren wir daher die Erhebungsdaten der EZB mit journalistischen „Reichenlisten“ um diese Lücke zu schließen. Durch moderne statistische Methoden können wir nicht nur die Spitze der Verteilung schätzen, sondern auch die Unterschiede zwischen den einzelnen Ländern herausarbeiten.

Traditionelle statistische Methoden bringen neue Erkenntnisse

Das Thema Superreiche hat eine lange aber zwischenzeitlich vernachlässigte Tradition in der Wirtschaftswissenschaft. Im 19. Jahrhundert beobachtete der italienische Ökonom Vilfredo Pareto, dass die Ungleichheit mit steigendem Vermögen größer wird: Der prozentuelle Unterschied zwischen der reichsten und der zweitreichsten Person ist größer als jener zwischen der zweit- und drittreichsten. Diese Regel kann in allen kapitalistischen Gesellschaften beobachtet werden. Sie lässt sich auch als mathematische Funktion ausdrücken, die „Pareto-Verteilung“ genannt wird. Mit diesem Wissen über diese charakteristische Eigenschaft von Vermögensverteilungen korrigieren Wissenschaftler*innen, wie z.B. von der EZB, die Unterschätzung an der Vermögensspitze. Auch wir nützen die Informationen aus Haushaltserhebungen und Reichenlisten und schätzen die Verteilung, die dieser Kombination an Daten am ehesten entspricht. Besonders auffällig: In Ländern, wo die Erhebung durch Vermögenssteuerdaten unterstützt wird, sind diese Abweichungen sehr gering, was die Bedeutung von Paretos Beobachtungen einmal mehr unterstreicht.

Österreich: Extreme Vermögenskonzentration und Unterschätzung

Die Verschiebungen in den neuen Schätzungen sind groß: Der Vermögensanteil des reichsten Prozent ist im Schnitt der untersuchten Länder um acht Prozentpunkte höher als in den Erhebungsdaten. Österreich gehört in gleich zwei Kategorien zu den Extremfällen: Der Vermögensanteil des reichsten Prozent ist mit 37,2 % am zweithöchsten. Gleichzeitig wird deren Vermögensanteil in der Erhebung mit 23 % besonders deutlich unterschätzt, das Gesamtvermögen um ein Drittel zu niedrig angesetzt.

Vermögen sind in ganz Europa sehr ungleich verteilt und das Vermögen der Reichsten wird fast überall unterschätzt, wo man sich auf deren freiwillige Teilnahme in Haushaltserhebungen verlässt. Gleichzeitig bringen die unterschiedlichen Rechts- und Wirtschaftssysteme sogar im zusammenwachsenden europäischen Raum ganz unterschiedliche Ungleichheiten hervor.

>>> Zur Studie: On Top of the Top. Adjusting wealth distributions using national rich lists

Franziska Disslbacher ist Ökonomin in der Arbeiterkammer Wien und Doktorandin an der WU Wien.

Michael Ertl ist Ökonom in der Arbeiterkammer Wien und Lektor an der WU Wien und der FH Wien der WKW.

Emanuel List ist Ökonom am Forschungsinstitut Economics of Inequality (WU Wien) und Doktorand am Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) in Düsseldorf.

Patrick Mokre ist Ökonom in der Arbeiterkammer Wien und Doktorand an der New School for Social Research in New York.

Matthias Schnetzer ist Ökonom in der Arbeiterkammer Wien und Lektor für Wirtschaftspolitik an der WU Wien.

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:

Mehr erfahren

Der ökonomische Blick

Österreichs Kampf gegen die Inflation ist teuer, klimaschädlich und nicht treffsicher

Österreich befindet sich bei Ausgaben gegen die Inflation im Vergleich von 29 europäischen Ländern an fünfter Stelle. Zu einem großen Teil sind die Maßnahmen jedoch kontraproduktiv für die Klimaziele und nicht treffsicher. Wie das in Zukunft verhindert werden könnte.
Der ökonomische Blick

(Was) verlieren Arbeitnehmer, wenn sie ein paar Monate lang nicht arbeiten gehen?

In unserer jüngsten Studie untersuchen wir die Folgen einer vorübergehenden Abwesenheit vom Arbeitsplatz auf die langfristige Lohnentwicklung ungarischer Arbeitnehmer:innen. Und kamen zu zwei wesentlichen Ergebnissen.
Der ökonomische Blick

Wie der Mietpreisdeckel in der Bevölkerung gesehen wird

Unter Ökonomen besteht ein hoher Konsens darüber, dass die aktuell intensiv diskutierten Mietregulierungen ineffizient sind. Doch welche Effekte dieser Maßnahme sind für die Bevölkerung wichtig und für die hohe Unterstützung in der Öffentlichkeit ausschlaggebend?
Der ökonomische Blick

Wie die Corona-Pandemie Österreichs Immobilienmarkt beeinflusst hat

Wie haben sich Lockdowns, Ausgangsbeschränkungen und Veränderungen in den Arbeitsbedingungen auf den österreichischen Immobilienmarkt ausgewirkt? Eine Bilanz.
Der ökonomische Blick

Sprache und Integration: Die langfristigen Wirkungen der Schulpolitik

Programme für neu eingetroffene Flüchtlinge und Migranten gelten als besonders erfolgreich, wenn sie einen starken Schwerpunkt auf Sprachtraining setzen. Eine empirische Studie aus den USA legt nun nahe, dass die erzwungene Sprachwahl an der Schule nach hinten losgehen kann.

Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.