Regierungskrise: „Auf das Ende Belgiens vorbereiten“

Regierungskrise: „Auf das Ende Belgiens vorbereiten“
Regierungskrise: „Auf das Ende Belgiens vorbereiten“(c) EPA (Dirk Waem)
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Die Koalitionsverhandlungen im EU-Vorsitzland Belgien sind vom Sprachenstreit überschattet. Die Angst vor einer Spaltung des Königreichs geht um und ist wahrscheinlich.

Wien/Brüssel. Wenn in der belgischen Staatskrise vom „Plan B“ gesprochen wird, ist das Ende des gemeinsamen Staates von Flamen und Wallonen gemeint. Hundert Tage nach den Parlamentswahlen gibt es im EU-Vorsitzland noch immer keine neue Regierung. Die Gräben zwischen den beiden Sprachengruppen, die außer ihrer Nationalität nichts Gemeinsames am jeweils anderen entdecken können, vertiefen sich zusehends.

Anfang September war der sozialistische Chefverhandler Elio di Rupo daran gescheitert, mit seinem Gegenpart Bart De Wever von der flämischen Allianz N-VA sowie fünf weiteren Parteien eine Einigung zur anstehenden Staatsreform zu erzielen. Die Flamen wollen mehr Autonomie und eine Aufspaltung des flämischen Wahlkreises Brüssel–Halle–Vilvoorde, weil die etwa 200.000 Wallonen in diesem Wahlkreis Sonderrechte genießen. Zudem wollen sie eine größere Steuerhoheit in ihrem Landesteil. Langfristig strebt De Wevers N-VA eine Eigenstaatlichkeit Flanderns an.

Nach dem Scheitern der Koalitionsverhandlungen beauftragte König Albert II. zwei Mittelsmänner, die im Volk nur „Minenräumer“ genannt werden.  Der Sozialist und Präsident der Abgeordnetenkammer, André Flahaut, und der flämische Senatspräsident Danny Pieters sollen die Wogen zwischen den Streithähnen di Rupo und De Wever glätten. Diese einigten sich zuletzt doch auf eine Arbeitsgruppe, die nächste Woche eine Zwischenbilanz abliefern soll.

Den Kummer gewohnt

Schon lange lähmt der Sprachenstreit die Regierungsbildung in der europäischen Kapitale. Was  Koalitionsverhandlungen betrifft, sind die Belgier aber Kummer gewöhnt. Nach den Parlamentswahlen vor drei Jahren dauerte es geschlagene 192 Tage, bis der flämische Christdemokrat Yves Leterme als Premier vereidigt werden konnte. Er trat in der Folge dreimal zurück, weswegen die Neuwahlen am 13. Juni nötig wurden.
In und um den Schmelztiegel Brüssel müssen die Menschen mit jenen Problemen zurechtkommen, an denen eine belgische Regierung nach der anderen scheitert. Im Volk rumort es. Wie sehr, zeigt ein Vorfall nahe der wallonischen Stadt Lüttich: Der flämische Parlamentspräsident wurde dort auf offener Straße krankenhausreif geprügelt, weil er sich auf wallonischem Boden aufgehalten hatte.

Statt an einer Lösung zu arbeiten, zieht sich der Streit bis in die höchsten Ebenen des Landes. Gibt es einen Ausweg aus dieser Pattsituation? Inzwischen reden auch wallonische Spitzenpolitiker wie die Sozialistin Laurette Onkelinx offen über eine Spaltung des Königreichs. In einem Interview mit der Zeitung „La dernière heure“ sagte sie: „Wir müssen uns auf das Ende Belgiens vorbereiten. Es kann tatsächlich passieren.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23. September 2010)

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