Brexit-Folgen

Kein Stau, aber viel Papierkram und Ärger

French Borders Closed At The Port Of Dover United Kingdom
French Borders Closed At The Port Of Dover United Kingdom(c) Getty Images
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Manchmal klappt es nicht mit der elektronischen Kommunikation der Zollsysteme, oft fehlt auf britischer Seite ein erfahrener Zollagent. Großbritannien ist keine Wunschdestination mehr.

Theaterleute sind abergläubisch: Pleiten, Pech und Pannen bei der Generalprobe sorgen für eine gelungene Premiere. Und umgekehrt. Das Omen aus dem Theater könnte sich auch auf die Logistikbranche übertragen haben. Am 2. Jänner fuhr ein Lkw der österreichischen Spedition Transbritannia als einer der ersten EU-Transporte nach Großbritannien – voll beladen mit Stahlcoils eines großen Produzenten aus Linz. Die Brexit-Generalprobe funktionierte dank penibler Vorbereitung reibungslos. Aber das war es auch: Dreieinhalb Monate später läuft der Warenaustausch mit Großbritannien alles andere als glatt.

Zwei Stunden Papierkram

Zwar blieben die großen Staus aus, aber nicht zuletzt deshalb, weil das Transportvolumen deutlich zurückgegangen ist. Paul Hütter von Transbritannia schätzt das Minus im Warenverkehr auf rund 40 Prozent. Der Grund: Warenlieferungen von und nach Großbritannien sind mit deutlich mehr Aufwand verbunden als zu Zeiten des gemeinsamen Marktes. Da ist einmal der Papier-kram, der die Transporteure viel Zeit und Nerven kostet. Pro Lkw dauere es zwei Stunden, erzählt Hütter, bis die Zollpapiere für die Ausreise fertiggestellt und in das französische Online-Zollportal eingegeben sind: „Diesen ,French Envelope‘ muss der Fahrer in digitaler Form bei sich haben, um überhaupt auf die Fähre oder den Eurotunnel-Zug zu kommen.“ Nicht immer reibungslos funktioniert auch die elektronische Kommunikation zwischen dem britischen und dem EU-Zollsystem, weiß René Karg vom Speditionsunternehmen Road International in Vorarlberg: „Schon mehrmals ist es vorgekommen, dass die englischen Behörden unsere Informationen nicht hatten.“ Das an sich harmlose technische Problem hat für den Spediteur mitunter gravierende Auswirkungen: Ein Lkw steht dann im schlimmsten Fall drei oder vier Tage an der Grenze. Just-in-time geht so gar nichts.

Wurden diese Hürden genommen und hat man einen guten britischen Zollagenten bei der Hand, kann (fast) nichts mehr passieren. Die Briten bemühen sich nach Kräften, die Brexit-Folgen gering zu halten. Die Verzollung in Großbritannien erfolgt in der Regel im Landesinneren beim Kunden, somit kann ab Verlassen der Fähre durchgefahren werden. Nur stichprobenartig wird bis Ende des Jahres an der Grenze kontrolliert. In Dover stehe zwar eine rot-grüne Ampel, „aber ich kann mich nicht erinnern, dass die jemals auf Rot geschaltet war“, berichtet Hütter.

Fehlende Zollagenten

Das gilt allerdings nur für Großbritannien-Spezialisten wie Transbritannia oder Road International, die dort auf starke Partner zurückgreifen können. Andere tun sich schwer, solche Experten beziehungsweise Zollagenten zu finden. Kein Wunder: „Es gibt einen massiven Bedarf an Zollagenten, 40.000 sollen fehlen, müssen erst ausgebildet werden“, berichtet Gerald Gregori, Vizepräsident der Bundesvereinigung Logistik Österreich (BVL). Hinzu kommen zusätzliche Kontrollen bei der Einfuhr, etwa für Lebensmittel, Tiere oder Pflanzen: „Die Veterinär-Checks sind um 325 Prozent gestiegen“, weiß Gregori. All das kostet Zeit.

Die Ausreise aus Großbritannien läuft ebenfalls nicht so einfach wie früher. Um Staus an der Grenze zu verhindern, haben die Briten zwar unzählige „Inland Border Facilities“ erstellt. Der Fahrer holt sich dort seine vom Zollagenten vorbereiteten Dokumente ab. Mit den richtigen Papieren könnte er theoretisch bis Österreich durchfahren und hier die Verzollung vornehmen. „Aber auch in Calais kann es einem passieren, dass man sechs oder sieben Stunden bei der Zollkontrolle steht, bevor es grünes Licht gibt“, weiß Hütter. Dazu kommen rechtliche Hürden – in diesem Fall von der EU. Fische und Meeresfrüchte müssen nun etwa gewaschen nach Europa geliefert werden. „Das Geschäft mit Frischfisch ist damit praktisch tot“, sagt Gregori. Bei Lachs beispielsweise verzeichnen die Briten laut Guardian ein Minus beim Export von 98 Prozent. Bei Rindfleisch sind es 92 Prozent, bei Käse 84 Prozent.

Information ist alles

Alfred Wolfram, Obmann des Fachverbands Spedition und Logistik, sieht die Situation insgesamt denn auch sehr kritisch: „Seitens des Fachverbands Spedition und Logistik haben wir damit gerechnet, dass der Brexit viele Schwierigkeiten für unsere Mitgliedsunternehmen bedeuten würde. Die aktuelle Situation ist aber um einiges schwieriger, als wir befürchtet haben.“ Wolfram rät allen österreichischen Logistikern, die Waren nach Großbritannien liefern oder von dort beziehen, sich genau vorzubereiten: „Informieren Sie sich bei der Wirtschaftskammer oder beim Bundesministerium für Finanzen.“ Die WKO hat einen Brexit-Infopoint eingerichtet, bei dem sämtliche Informationen betreffend Neuerungen UK abgefragt werden können.

Großbritannien-Spezialisten wie Hütter und Karg verzeichneten nach Eintritt des Brexit keine Rückgänge beim Transportvolumen. Dafür sorgen langfristige Verträge, die ihre Lkw-Flotte voll auslasten. Zusätzliche Aufträge werden aber kaum angenommen. Es gibt da nämlich noch ein weiteres Problem: Fahrer, die, abgesehen von Corona, im EU-Raum an freie Fahrt gewöhnt sind, reißen sich nicht um Großbritannien-Touren mit mühsamem Papierkram und möglicherweise längeren Aufenthalten. Auf der Insel wird es einsamer.

BREXIT-FOLGEN-STUDIE

In einer umfangreichen Studie, die in der Broschüre „Brexit And Beyond“ veröffentlicht wurde, haben sich britische Wissenschaftler mit den Folgen des EU-Austritts auseinandergesetzt. Thomas Sampson, Professor der London School of Economics, errechnete in einem Zehnjahresmodell für die britischen Exporte in die EU ein Minus von 36 Prozent, für die Importe aus der EU ein Minus von 30 Prozent und für den gesamten Außenhandel des Königreichs ein Minus von 13 Prozent. Ohne Brexit hätte es beim Warenaustausch mit der EU hingegen in beide Richtungen ein Plus von 13 Prozent gegeben, betont der Wissenschaftler.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.04.2021)

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