„Die Kraft der Bilder kommt der philosophischen Absicht in die Quere“: Amos Vogel über „Die 120 Tage von Sodom“.
Film

Subversives Kino: Lassen wir uns verstören

Der gebürtige Wiener Amos Vogel wurde im New Yorker Exil zu einem der bahnbrechenden Kino-Revolutionäre des 20. Jahrhunderts: Er veränderte Sehgewohnheiten und schrieb die Bibel des subversiven Films. Aber was ist heute noch subversiv? Eine Spurensuche zum 100. Geburtstag.

Schon bei der Einleitung geht es in die Vollen: „Das vorliegende Buch beschäftigt sich mit der Subversion, Zerstörung oder Veränderung der bestehenden Werte, Institutionen, Sitten und Tabus in Ost und West, bei Linken und Rechten, durch die vielleicht einflussreichste Kunst des Jahrhunderts. Es ist skeptisch gegenüber den allgemein anerkannten Erfahrungen und Erkenntnissen (einschließlich der hier vorgetragenen), gegenüber ewigen Wahrheiten, Kunstregeln, Naturgesetz und Ordnungsprinzip, gegenüber allem, was heilig ist; und es versucht aus dem Schaffen und Wirken der einzelnen Umstürzler einen flüchtigen Augenblick festzuhalten – den flüchtigen Augenblick, von dem dieses Buch lebt.“

Es mochte vom flüchtigen Augenblick leben, doch die Wirkung war epochal: Amos Vogels 1974 publiziertes Buch „Film as a Subversive Art“ ist längst zum Standardwerk geworden, was angesichts seiner leidenschaftlichen Parteinahme für Außenseiterpositionen und prinzipiellen Ungehorsam in der Kunst wie im Denken ironisch anmuten mag, aber eigentlich nur seinen intendierten Bildungsauftrag einlöst. Denn was Vogel später als „die Summe meines bisherigen Lebenswerks“ bezeichnete, war zum Ersten eine gesellschaftliche und philosophische Intervention: Seine Vorstellung der subversiven Kunst bettete Vogel in weiterführende Betrachtungen, die sie als moralische Waffe im Kampf gegen die Ungerechtigkeit und als angemessene Reaktion auf die unfassbare Komplexität der modernen Welt charakterisierten. So wie die Wissenschaft längst mit den Gewissheiten der klassischen Physik aufgeräumt hatte, galt es die klassischen Erzählformen des 19. Jahrhunderts – vom konventionellen Kino weitergeführt – zu verwerfen: als dem Erlebnis einer Existenz voller Unsicherheit und Entfremdung unangemessen. Und keine Kunst eignete sich nach Vogels Dafürhalten so sehr dafür, die Zersplitterung und verwirrende Vielschichtigkeit dieser Welterfahrung zu vermitteln, wie das Kino.

Zum Zweiten war sein Band eine Einladung zu ungeahnten Entdeckungsreisen mit dem Ziel, den Leser aufzurütteln. Vogel ließ keinen Zweifel an der Mission subversiver Kunst (und damit auch seines Werks): „Ihre Aufgabe bleibt aber immer dieselbe: Veränderung des Bewusstseins.“ Die meisten der gut 600 besprochenen Werke in seinem Katalog grenzüberschreitender Filme fielen damals in die Kategorie Geheimwissen. So wurde es eine Art Bibel widerständigen Kinogeists: eine Inspiration und Fundgrube nicht nur für Leute, die gern Filme schauten, sondern auch für diejenigen, die sie machten – oder berufsmäßig zeigten, in renommierten Cinémathèquen ebenso wie in alternativen Punk-Schuppen. Neue Welten taten sich auf, und Vogels Ideen verbreiteten sich weltweit, auch durch viele Übersetzungen. Unerreicht blieb die visuelle Gestaltung des Originals. „Worte sind nicht die idealen Interpreten für ein visuelles Medium“, entschuldigte sich Vogel vorab und kompensierte das durch die sorgfältige Auswahl und Zusammenstellung teils provokanter Fotos. So hinterließen viele kaum zugängliche Filme trotzdem starke Bilder in den Köpfen der Leserschaft.

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