Türkei will die EU dominieren

Türkei will die EU dominieren
Türkei will die EU dominieren(c) AP (Burhan Ozbilici)
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Ankaras Vizepremier Ali Babacan erhofft führende Rolle für sein Land in der Europäischen Union. Aufgrund des hohen Wirtschafts- und Bevölkerungswachstums führte an der Türkei kein Weg vorbei.

New York/Wien. „Wenn die Türkei ein Mitglied der EU wird, wird sie nicht in der zweiten Reihe stehen, und das ist einer der Gründe, warum Länder wie Deutschland und Frankreich recht nervös über unsere Mitgliedschaft sind.“ Der türkische Vizepremier Ali Babacan zeigte am Rande der UN-Vollversammlung in New York Selbstbewusstsein. Sein Anspruch auf eine EU-Führungsrolle begründet sich auf harte Fakten: Mit einem Wirtschaftswachstum von voraussichtlich sieben Prozent in diesem Jahr, mit zunehmendem Einfluss als Handelsdrehscheibe für Energie und mit seinem fast unerschöpflichen Potenzial an Human-Ressourcen hat die Türkei zuletzt auf die europäische Überholspur gewechselt.

Zurzeit ist die Türkei die siebzehntgrößte Volkswirtschaft der Welt. In zwanzig Jahren dürfte es laut Wirtschaftsforschern unter den Top Ten liegen und Länder wie Spanien oder Italien hinter sich lassen. Gleichzeitig wird die Türkei laut Prognose von IIASA und der Akademie der Wissenschaften zu diesem Zeitpunkt rund 85,5Millionen Einwohner zählen und damit das größte EU-Land, Deutschland, überholen.

Sollte die Türkei trotz Widerstands von Ländern wie Österreich, Deutschland oder Frankreich der EU beitreten, würde Ankaras politische Führung in den EU-Institutionen dominieren. Schon heute wäre die Türkei das Land mit dem zweitgrößten politischen Einfluss im Europaparlament und gleichberechtigt mit den größten Ländern im EU-Rat (siehe Grafik). Obwohl das Machtgefüge der Union in den nächsten Jahren schrittweise an die Regeln des Lissabon-Vertrags angepasst werden muss, würde sich für die Türkei wenig ändern. Ankaras Einfluss dürfte sogar durch sein hohes Bevölkerungswachstum noch steigen, da sich die Zahl der Sitze im Europaparlament oder die neuen Mehrheitsverhältnisse im Rat vor allem an der Einwohnerzahl orientieren.

Als großes Land wird die Türkei nicht nur leicht Entscheidungen in der EU durchsetzen, sondern unliebsame Beschlüsse auch blockieren können. Der Lissabon-Vertrag sieht vor, dass ab 2014 Länder, die zusammen über 35 Prozent der EU-Bevölkerung verfügen, eine Sperrminorität bilden. Das heißt, Ankara könnte beispielsweise gemeinsam mit London, Madrid und Warschau jede von Paris und Berlin vorgegebene politische Maßnahme durchkreuzen. Die Dominanz der deutsch-französischen Achse wäre durchbrochen.

Einfluss auf EU-Politik

Was würde sich politisch durch eine EU-Mitgliedschaft der Türkei ändern? Die EU-Außen- und Sicherheitspolitik würde sich mit der Türkei nach Ansicht von EU-Diplomaten noch stärker an den USA orientieren. In der Handelspolitik dürfte Ankara stärker als die bisherigen EU-Länder auf Freihandel setzen. Die Bemühungen um mehr Kooperation bei der inneren Sicherheit würden von Ankara mit großer Wahrscheinlichkeit vorangetrieben. Doch wird auch erwartet, dass Ankara bei der Durchsetzung bürgerlicher Freiheitsrechte wie etwa Datenschutz auf die Bremse tritt.

Babacan wies in New York darauf hin, dass die Europäische Union mit der Türkei international an Bedeutung gewinnen würde. „Das Gewicht der europäischen Wirtschaft in der Welt ist geschrumpft und wird weiterschrumpfen. Nur mit einer Erweiterung wird die EU in der Lage sein, Macht und Einfluss zu wahren.“ Eine Meinung, der sich zuletzt auch der deutsche Altkanzler Gerhard Schröder in einem Beitrag für „Welt-Online“ angeschlossen hat. „Ohne die Türkei versinkt die EU im Mittelmaß“, so der SPD-Politiker. Er wies dabei auf das rasante Wachstumstempo hin. Allein in diesem Jahr wird die türkische Wirtschaft viermal mehr als die französische und doppelt so viel wie die deutsche Wirtschaft zulegen. Schröder erwartet, dass die Türkei in 20 Jahren die viert- oder fünftgrößte Wirtschaft Europas sein werde. Dann führte an ihr kein Weg mehr vorbei.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24. September 2010)

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