Gastkommentar

Beziehungsarbeit mit den Bürgern Europas

Peter Kufner
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Drei Wege, um die am 9. Mai startende Konferenzzur Zukunft Europas zu einem nachhaltigen Erfolg zu führen.

Die Europäer haben ein Interesse an der Zukunft. Und sie wollen, dass die Europäische Union sie stärker einbindet. Das war das eindeutige Ergebnis einer Eurobarometer-Umfrage vom März 2021, laut der 92 Prozent der Befragten erwarten, dass die EU mehr auf die Bürger hört, wenn es um Zukunftsfragen geht.

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Am 9. Mai, dem Europatag, starten die EU-Institutionen nun endlich die bislang verzögerte Konferenz zur Zukunft Europas. In nur einem Jahr sollen bis zu 470 Millionen EU-Bürger sowohl online als auch in Präsenzveranstaltungen darüber abstimmen, welche Prioritäten die EU aus ihrer Sicht verfolgen sollte.

Die Risken dieses Hauruckverfahrens sind beachtlich: Was, wenn keiner kommt? Bislang ist dieses Vorhaben kaum über die „Brüsseler Blase“ hinaus kommuniziert worden, die noch darüber hinaus in Bezug auf die Funktion und Bedeutung der Zukunftskonferenz selbst zerstritten ist. Auf diese Weise lassen sich kaum binnen kurzer Zeit Tausende Bürger aktivieren, geschweige denn für einen neuen Aufbruchsmoment begeistern.

Wo ist die Avantgarde?

Was, wenn die Organisatoren trotz des Veranstaltungstitels auf eines vergessen – die Zukunft? Gerade in jüngster Zeit hat sich nämlich vielerorts eine lebendige europäische Zivilgesellschaft gebildet – von den Stadtplatz-Versammlungen „Pulse of Europe“ über die „Fridays for Future“-Bewegung bis hin zu digitalen Kampagnengruppen und grenzüberschreitenden Denkfabriken. Doch genau diese pluralistische Avantgarde der zeitgenössischen europäischen Zivilgesellschaft spielt bisher keine nennenswerte Rolle bei der Konferenz. Dabei wäre sie eine wesentliche Vermittlergruppe zwischen den gern behäbigen Institutionen und Verwaltern der Gegenwart und den vielfältig aufgestellten, konstruktiven Gestaltern der Zukunft.

Schließlich und sehr grundsätzlich: Was, wenn es nur um Public Relations geht und nicht um Substanz? Die Institutionen konnten sich bisher nämlich auf keine konkrete Verwendung der Ergebnisse der Konferenz einigen, nur darauf, etwas auszuschließen: Die EU-Verträge werden nicht aufgeschnürt. Dabei braucht es neben der regelmäßigen formalen Einbindung einer aktiven Bürgerschaft gerade jetzt langfristige Strukturreformen hin zu einem „gemeinnützigen Binnenmarkt“, um die Beiträge des Europas von unten zu verstetigen.

Tatsächlich hat die Europäische Union es auch über 15 Jahre nach den gescheiterten Referenden zur Verfassung Europas und dem damals vorgelegten „Plan D“ für mehr Demokratie nicht geschafft, die Kluft zu ihren Bürgern über das Verwenden digitaler Kommunikationsmittel hinaus substanziell zu überwinden. Das hat viel mit einem über Jahrzehnte gewachsenen gegenseitigen Argwohn zu tun.

Mit einem ernst gemeinten Dialogangebot kann zumindest „Brüssel“ nun einen entscheidenden Schritt auf die Menschen zu machen. Richtig verstanden bietet sich die Konferenz als eine echte Lernchance für die Institutionen der EU und der Mitgliedstaaten an, die Bürger in ihrer Modernität, Vielfalt und Konstruktivität kennenzulernen: Ein Jahr als „Crashkurs“ für den Politikbetrieb in Brüssel und den nationalen Hauptstädten, um deren Bild vom Bürger im 21. Jahrhundert nachzuschärfen.

Neue Beziehung zu Bürgern

Es gilt, Kontakt herzustellen, ins Feld zu gehen, zuzuhören und Vertrauensbildung nachzuholen. Dafür ist die Anwesenheit von Personal aus Politik und Verwaltung sämtlicher Ebenen bei den Veranstaltungen der Zukunftskonferenz entscheidend. Ob Elder Statesmen oder Nachwuchs in Politik und Verwaltung – sie alle können bei dieser Konferenz erfahren, welchen Mehrwert breit und offen gestaltete Zukunftsprozesse heutzutage erreichen können. Sie stärken nämlich nachweislich die Akzeptanz demokratischer Prozesse und politischer Entscheidungen. Zugleich beliefern sie die Hauptstadtbetriebe mit Innovationen und Initiativen aus dem Feld.

Wenn die Konferenz zur Zukunft Europas also die Beziehung zwischen der Europäischen Union und den Bürgern neu, demokratischer und zufriedenstellender gestalten soll, kommt es nun auf drei Erfolgsfaktoren an: Erstens, die Konferenz muss inklusiv sein und sich an alle Bürger richten. Dazu müssen zwei Gruppen umgehend in Schlüsselpositionen gebracht werden: zum einen heimische Vorbilder und Vorreiter aus den Welten von Sport bis Kultur, von Innovation bis hin zur digitalen Influencer-Szene; zum anderen zivilgesellschaftliche Netzwerke – ob formell oder informell, ob in der Kreislaufwirtschaft oder zu Menschenrechten, in der freiwilligen Feuerwehr oder der Kinder- und Jugendarbeit, ob online- oder offlinebasierte Gruppen. Denn: Diese bekannten Persönlichkeiten und existierenden Netzwerke können in ihrer Vielfalt und ihrer Verbreitung quer durch die EU, aber auch über die Generationen hinweg, sicherstellen, dass ein repräsentatives Spektrum von Stimmen gehört wird und dass sich niemand bewusst ausgeschlossen fühlt.

Zweitens braucht es professionelle und neutrale Durchführer in den Mitgliedstaaten. Sie müssen Debatten moderieren, begleitendes Personal schulen und als Ansprechpartner für die Medien fungieren. Es braucht eine einheitliche Methodik und eine mehrsprachige Online-Plattform. Die von den Bürgern – ob jung oder alt – erarbeiteten Prioritäten müssen dort systematisch und transparent gesammelt werden, um in gemeinsame Empfehlungen münden zu können.

Miteinander statt übereinander

Drittens muss das Ziel der Konferenz klar benannt sein. Die Bürger werden nur dann an diesem EU-Vorhaben teilnehmen wollen, wenn sie sicher sein können, dass sich das Europäische Parlament, die Europäische Kommission, die EU-Regierungen und nationale Parlamente mit ihren Vorschlägen befassen. Ein zentrales Ergebnis sollte daher jetzt schon die Schaffung eines permanenten Mechanismus sein, mit dem EU-Bürgern ihre Prioritäten für das jährliche Arbeitsprogramm der EU vorschlagen können.

Die Konferenz über die Zukunft Europas ist eine einzigartige Gelegenheit, die Beziehungen zwischen der europäischen Gesellschaft und den europäischen Institutionen zu stärken. Mehr denn je zuvor geht es jetzt auf dem Weg aus der Pandemie darum, zu Fragen unserer gemeinsamen Zukunft miteinander statt übereinander zu reden.

Wenn es gelingt, den Fokus der Konferenz zur Zukunft Europas hauptsächlich auf diese andauernde, nötige – wenn auch oft kaum sichtbare – Beziehungsarbeit zwischen der Europäischen Union und den Bürgern zu richten, können wir gemeinsam die Ordnungskraft, Lösungskompetenz und internationale Strahlkraft des europäischen Modells stärken.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.04.2021)

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