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Archie Shepp knarrt und seufzt in Spirituals

Archie Shepp
Archie Shepp
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Im Duo mit Pianist Jason Moran legiert der große Freejazz-Saxofonist auf „Let My People Go“ Klage und Ekstase.

Vom Piano kommen dunkle Töne. Suchend bewegen sie sich vorwärts. Ihr Rhythmus hat etwas Unstetes, Abwartendes, das die Spannung erhöht. Im Vordergrund plustert sich Archie Shepps klagender Saxofonton auf. Der 83-Jährige hat es nicht eilig, die Motive zu entwickeln. Sein Suchen gilt dem Spirituellen. In der neunten Minute übernimmt Pianist Jason Moran erstmals die Initiative, entwickelt die Motive auf sachte, aber unerbittliche Weise weiter. Drei weitere Minuten später ist Shepp wieder obenauf und trägt das Stück endgültig himmelwärts . . .

„Wise One“, im Original 1964 von John Coltrane mit seinem Quartett eingespielt, ist ein Schlüsselstück in dessen Werk, ein Vorläufer von „A Love Supreme“. Es greift tief in die Tradition des Spirituals; doch der tiefe Glaube, der sich da äußerte, sprengte den Rahmen einer Religion. Coltranes Ansatz war pantheistisch. An den Stellen, an denen sein Saxofonton von leuchtender Schönheit getragen war, knarrt, seufzt und ächzt es heute bei Shepp. Es ist, als behandle er nicht nur das Numinose selbst, sondern auch die schmerzliche Suche danach.

In „Go Down Moses“ singt Shepp auch

Die Intimität, die sich zwischen Shepp und Moran einstellt, ist erstaunlich, sind sie doch altersmäßig 37 Jahre auseinander und recht unterschiedlich sozialisiert. Moran lernte die Grundlagen des Jazz auf Universitäten, die ja angeblich verhindern, dass die Studenten einen individuellen Ton finden. Was bei Moran keinesfalls stimmt. Vielleicht weil er früh Fühlung mit den Altvorderen gesucht hat, mit Granden von Wayne Shorter bis Charles Lloyd gespielt hat.

Shepp selbst pflegt seit den Sechzigerjahren das Image des wilden Manns. Seine stilistische Heimat war erst der Freejazz, dann eine auf dem Blues fußende Abart des Hard Bop, oft politisch aufgeladen. Mit „Attica Blues“ zählt er zu den Urvätern des Hip-Hop, 2011 nahm er mit Chuck D. von Public Enemy auf, 2020 mit dem Rapper Raw Poetic. Auf „Let My People Go“ zapft er seine zweite Quelle, zugleich die zweite Quelle des Jazz, an: das Spiritual. Als Kind nahm ihn seine Großmutter, die Shepp mit dem Stück „Mama Rose“ unsterblich gemacht hat, in die Piney Grove Baptist Church in Philadelphia mit. Das hat unauslöschlichen Eindruck auf ihn gemacht, wie dieses Album zeigt. Vor allem in Stücken wie „Go Down Moses“, in denen Shepp seine Singstimme erhebt, greift er auf die lange Tradition der Gottessuche in der afroamerikanischen Musik zurück. Aber Shepp jubiliert nicht wie einst Mahalia Jackson. Auch mit dem opernhaften Bassgesang eines Paul Robeson, der um 1950 das sogenannte Negro Spiritual wiederbelebt hat, hat sein Vortrag wenig zu tun. In seiner achtminütigen Adaption von „Sometimes I Feel Like a Motherless Child“ singt er erst im letzten Drittel. Da klingt er schon beinah erlöst. Viel von seiner Sehnsucht und seinem Schmerz hat er davor in um sich selbst kreisenden Saxofonmelodien exorziert.

„Let My People Go“ enthält auch weltliche Jazzklassiker, etwa „Isfahan“ und „Lush Life“ von Billy Strayhorn. Moran und Shepp spielen sie aber ohne den klanglichen Luxus, den einst Duke Ellington auf diese Kompositionen verwandte: faszinierend weltabgewandte Interpretationen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.04.2021)

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