Gastkommentar

Afghanistan am Abgrund kann Europa nicht egal sein

Peter Kufner
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Mit dem Abzug der US-Truppen bis September beginnt für das Land eine ungewisse Zeit. Das wird auch eine Herausforderung für den Westen.

Afghanistans Zukunft steht auf des Messers Schneide. Die Ankündigung von US-Präsident Joe Biden am 14. April, dass die Vereinigten Staaten ihr gesamtes verbliebenes Militärpersonal bis zum 11. September dieses Jahres aus Afghanistan abziehen werden, hat die Atmosphäre der Ungewissheit über die Zukunft Afghanistans wesentlich verstärkt.

Während damit die US-Absichten klargestellt worden sind, ruiniert dies einen sinnvollen „Friedensprozess“ zur Lösung des langjährigen Konflikts zwischen gemäßigten afghanischen Kräften, die sich für ein „republikanisches“ Regierungssystem einsetzen, und den von Pakistan unterstützten Taliban. Die Taliban sind eine totalitäre islamische Bewegung, die noch vor ihrem Sturz durch jene von den USA geleitete internationale Militäraktion nach den 9/11-Attacken ein internationaler Paria war. Aber für viele erfahrene Beobachter glich das, was bisher als „Friedensprozess“ dargestellt wurde, bereits seit einiger Zeit eher einem Ausstiegsprozess für die USA aus einem zunehmend als nicht notwendig erachteten militärischen Einsatzgebiet; das Abkommen zwischen den USA unter Präsident Trump und den Taliban vom 29. Februar 2020 verstärkte diesen Eindruck nur noch. Es offerierte den Taliban fast alles, was sie wollten, nämlich eine plötzlich gleichberechtigte Akzeptanz in internationalen Verhandlungen und am Verhandlungstisch, eine Verpflichtung der afghanischen Regierung zur Freilassung von 5000 Taliban-Gefangenen – die unter amerikanischem Druck auch schon erfolgte – und einen festen Zeitplan für den Abzug der USA und damit der internationalen Truppen. Sie müssen also nur noch darauf warten.

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Es überrascht daher kaum, dass die Taliban nun keine Neigung mehr zeigen, mit der afghanischen Regierung über nachhaltige Friedenslösungen zu verhandeln. Bereits seit Monaten ist der „Friedensprozess“ de facto zum Stillstand gekommen. Nach Präsident Bidens Ankündigung des bedingungslosen Truppenabzuges nun noch viel mehr – siehe eben auch die Verschiebung der Istanbul-Konferenz.

Die Ankündigung des Abzuges hat die Situation in Afghanistan nun dramatisch verschlechtert, obwohl er unterschiedlich interpretiert wird: „Wir haben gewonnen, und Amerika hat verloren“, sagen die Taliban, während „Panik regiert“, wie uns eine Person aus Kabul kürzlich telefonisch mitteilte. Alles ist dadurch unvorhersehbarer und gefährlicher geworden, nicht nur für die Afghanen und ihr Land, in dem über 60 Prozent der Bevölkerung von 37 Millionen unter 25 Jahre alt sind, sondern auch für die Region – und für Europa. Den gemäßigten Kräften in Afghanistan steht ein großer Umbruch bevor: Besonders jüngere Fachkräfte, Männer wie Frauen, und Mitglieder nicht paschtunischer Minoritäten haben mit gezielten persönlichen Angriffen zu rechnen – die tatsächlich bereits zunehmen, entgegen den Versprechen der Taliban. Diese erhalten übrigens weiterhin militärische Unterstützung aus Pakistan, und es ist keineswegs klar, ob die gemäßigten Afghanen dem bevorstehenden bewaffneten Druck der Taliban werden standhalten können, wodurch mit erhöhter Instabilität und u. U. einer bürgerkriegsähnlichen Situation zu rechnen sein wird.

„Es regiert nun Panik“

Dadurch steigt die Wahrscheinlichkeit, dass Hunderttausende Afghanen, vor allem Frauen und die jüngere Generation, eine Flucht in Richtung Europa planen könnten. Sie werden höchstwahrscheinlich versuchen, über die Türkei oder Zentralasien und die Russische Föderation zu reisen. Diese Flüchtlingsströme könnten von Ankara und für andere Großmachtinteressen instrumentalisiert werden.

Das alles, während die russischen Truppen eine bedrohliche strategische Haltung gegenüber Weißrussland und der Ukraine einnehmen. Dies ist ein unglücklicher Moment für den Ruf der Vereinigten Staaten hinsichtlich ihrer strategischen Zuverlässigkeit (siehe auch: Budapester Memorandum für die Sicherheit der Ukraine von 1994 und das jüngste Im-Stich-Lassen der Kurden). Der Rückzug der USA und der internationalen Soldaten 20 Jahre nach dem 11. September (viele radikale islamische Kräfte feiern diesen Tag in Erinnerung an die 9/11-Terrorattacken auf New York und Washington) wird zweifellos in der extremistischen islamischen Propaganda als Sieg gefeiert – und als Niederlage der westlichen Supermacht gegen jihadistische Kräfte. Wahrscheinlich werden sich hiedurch radikale Islamisten nun zu weiteren Aktionen anderswo inspiriert fühlen – siehe Nordafrika und Naher Osten. Diese Gefahren zu vermeiden ist keine leichte Aufgabe, aber es sollte möglich sein. Noch ist nichts in Stein gemeißelt. Europa, die USA und Russland können – viribus unitis – es anders machen, indem sie:

► die Taliban zwingen, zum Verhandlungstisch zurückzukommen, und klarmachen, dass sie im Falle einer gewaltsamen Machtübernahme als internationale Terrororganisation angesehen werden.
► sofortige effiziente und glaubwürdige Maßnahmen für die jungen Afghanen schaffen. Mittels einer EU-Initiative mit Großbritannien und der OSZE, um die im Aufblühen befindliche afghanische Zivilgesellschaft und bereits gut arbeitende Wirtschaftsbetriebe zu schützen und zu fördern; und um Arbeitsprogramme sowie Berufsschulen zu schaffen und damit Investitionen und Handel zu ermöglichen.
► landwirtschaftliche Programme für gewinnbringende Alternativen zum Opiumanbau entwickeln – plus Sicherheitsgarantien für die mitwirkenden Bauern.
► den Energiesektor sowie die Infrastruktur ausbauen und Afghanistan als regionalen Energie- und Transitknotenpunkt etablieren. Aber mit Korruptionskontrolle und Sicherheitsüberlegungen.
► Sicherheit und Stabilität in Afghanistan aufbauen, i. e. durch Verhinderung gezielter Attentate, besonders auch gegen Frauen, Angestellte, Meinungsbildner und Entscheidungsträger.
► effektives Training und Unterstützung für afghanische militärische Kräfte und Sicherheitskräfte/special forces bieten sowie den Unterhalt der afghanischen Luftwaffe sichern, um deren Fähigkeit und Moral zu stärken und effektive Operationen zu ermöglichen.
► eine einbindende Islamische Republik Afghanistan unterstützen – aber die Etablierung eines Islamischen Emirates verhindern.
► ein Stabilisierungskonzept für die Nachbarstaaten und die Region (vom Golf bis zum Hindukusch) in Zusammenarbeit mit der OSZE entwickeln.
► die Rolle des UN-Sonderbeauftragten für Afghanistan durch Geheimdienstinformationen europäischer Dienste stärken und die Finanzierung von Projekten in friedlichen und stabilisierenden Landesteilen ermöglichen.

Angesichts der Gefahr eines afghanischen Staatszusammenbruchs sollte uns klar sein: Wenn der Westen Afghanistan jetzt verlässt, werden viele Afghanen versuchen, nach Europa zu kommen

Zu den Personen

Prof. Wolfgang Danspeckgruber,
(* 1956) studierte Recht und internationale Beziehungen in Linz, Wien und Genf. Er ist Gründungsdirektor des Liechtenstein Institute on self determination an der Universität Princeton und Afghanistan-Experte.

Prof. William Maley, AM, ist emeritierter Professor für Diplomatie an der Australian National University.

Hinweis: Den Text ins Deutsche übersetzt hat Karen Gallagher-Teske.

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