Gastkommentar

Die Toten der EU: Eine Anklage ohne gesetzliche Grundlage

Flüchtlinge in Griechenland. (Archivbild)
Flüchtlinge in Griechenland. (Archivbild)REUTERS
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130 Menschen sind vergangene Woche im Meer vor Libyen ertrunken. Eine Anklage im Sinne einer Ethik der Vorrangigkeit.

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Bundeskanzler Sebastian Kurz, sein Innenminister, sein früherer italienischer Kollege Matteo Salvini, die politischen Spitzen der EU und ihrer Staaten misshandeln keine Kinder, töten keine Menschen. Sie stoßen sie nicht in den Staub der Flüchtlingslager, reißen ihnen nicht Schulhefte aus der Hand, misshandeln keine Schutzsuchenden, drücken nicht Ertrinkende mit dem Kopf unters Wasser. Nein, das tun sie nicht. Aber…

Am 29. November 1972 wurden in Frankreich zwei Männer durch die Guillotine hingerichtet. Der Philosoph und Soziologe Michel Foucault verfasste daraufhin ein Pamphlet („Die zwei Toten Pompidous“), in dem er den damaligen Staatspräsidenten für die Tötung direkt verantwortlich machte, weil er diese nicht durch Begnadigung verhindert habe, aber auch weil er – als politisch Verantwortlicher – weiterhin die Todesstrafe als „etwas politisch, physisch Unerträgliches“ zulasse. Sie wurde 1981 abgeschafft – ein Zeichen, dass Wandel möglich ist, wenn politischer Wille und Mut vorhanden sind.

Natürlich hat Pompidou die zwei Männer nicht selbst umgebracht, die Tötung erfolgte nach dem Gesetz, durch einen dafür bezahlten Staatsangestellten. Foucaults Anklage gilt einer Routine, die Grausamkeit kühl argumentiert und sachlich ausführt: “Es gibt einen Mann, der in Auteuil wohnt und der in der Nacht von Montag auf letzten Dienstag eine Million und zweihunderttausend Francs verdient hat. Monsieur Obrecht hat zweimal an der Schnur gezogen: sechshunderttausend Francs für einen in einen Korb springenden Kopf. Das gibt es noch, das macht einen Teil unserer Institutionen aus, versammelt um seine Zeremonie die Richterschaft, die bewaffneten Polizisten und, im Schatten, den Präsidenten der Republik – kurz alle Gewalten.”

Etwas politisch, physisch Unerträgliches

Die Kunde, die aus den Lagern in Moria, in der Türkei und anderswo zu uns dringt, ist nicht weniger „etwas politisch, physisch Unerträgliches“. Sie rinnt ab an der Regenkleidung der politisch Verantwortlichen, weil sie nach nationalstaatlichen Logiken, gestützt auf Justiz- und Polizeiapparat handeln: Sie schicken, täglich, Menschen in Kriegsgebiete zurück, die hier zu lernen und zu arbeiten begonnen haben, sie reißen Familien auseinander oder verhindern die Zusammenführung, zahlen Staaten, die sie als „Schurkenstaaten“ beschimpfen, zugleich hohe Summen, um das Drecksgeschäft für uns zu erledigen.

Nein, für eine Anklage auf Mord, auf Kindesmisshandlung, auf familiäre Gewalt, auf Verwahrlosung, auf verweigerte Hilfeleistung besteht keine gesetzliche Grundlage. In Italien steht zwar, weitum als Einzelfall, der frühere Innenminister Matteo Salvini vor Gericht, weil er Rettungsschiffe mit Geflüchteten wochenlang nicht anlegen ließ; ob er schuldig gesprochen werden kann, ist keine Frage des moralisch erträglichen Handelns, sondern hängt von spitzfindigen Argumentationen ab, ob er durch Regierungsbeschlüsse legitimiert war. Für eine Anklage gegen die vermeintlichen High-End-Demokratien Europas wegen fortgesetzter verweigerter Hilfeleistung fehlen die Voraussetzungen.

Gebot der Nächstenliebe

Die Anklage wäre möglich auf der Grundlage einer Ethik der Vorrangigkeit. Diese gebietet schlicht, dass zu helfen ist, wenn die Not vor uns steht, ohne zu überlegen, was für Folgen das haben könnte, ohne sich auf Rechtsysteme, Sachzwänge und ähnliche Abwiegelungen hinauszureden. Es ist das Gebot der Nächstenliebe, das für sehr viele Menschen gilt, nicht mehr aber für Parteien, die sich in ihren Programmen auf das Christentum berufen, ebenso nicht für Politiker, die auch gern den Papst für ein schickes Foto besuchen, seine Mahnungen aber als Attitüden eines Gutmenschen abtun.

Diese elegante Täterschaft versteckt sich hinter einer Argumentation nachrangiger Ethik: Die verschränkten Arme angesichts der am Boden liegenden Menschen, die verstopften Ohren gegen die Hilfeschreie und das Klopfen an die Tür werden damit gerechtfertigt, dass sie größere Not verhindern. Würden wir die Türen öffnen, würden noch mehr dazu ermutigt, die lebensgefährlichen Fluchtwege zu beschreiten und ihre Familien und Heimatländer im Stich zu lassen, lautet das politische Plädoyer der Rechtfertigung. Es wird zur Anklage gegen die Gutmenschen, denen in ihrer Gefühlsduseligkeit die Einsicht in die viel komplexeren Zusammenhänge fehle.

So lässt ein System der Selbstgefälligkeit Menschen sterben und verroht dabei selbst. Mit der Verletzung von Menschenrechten im Namen nationalen Rechts und nationalen Selbstschutzes verletzen wir uns selbst. Im Sinne nachrangiger Ethik könnte argumentiert werden, dass auch Chancen vergeben werden und Humankapital ungenutzt bleibt. Diese Anklage hier beschränkt sich auf die Ethik der Vorrangigkeit: Die Augen zumachen, wenn Not an die Tür klopft, ist eine Tat der Kälte, die nicht gut tun kann, weder den Betroffenen nicht, noch jenen, die sich hinter Schutzbehauptungen verbergen.

Bildung und Herzensbildung

Als Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die sich um die Bildung von Menschen bemühen, haben wir den Offenen Brief „Bildung darf nicht flüchten“ verfasst und für Geflüchtete das Recht auf Bildung eingefordert, in den Lagern vor unserer Haustür und bei uns. Bildung schließt auch die Herzensbildung ein, weil kein Lernen möglich ist, wenn Menschen sich nicht auf die Dinge einlassen, die sie lernen wollen, nicht die Bedingungen durchschauen, mit und unter denen sie leben. Ein moderneres Wort dafür ist Empathie, die Öffnung hin zur eigenen Befindlichkeit und zum fremden Wissensbestand, zu den Anderen und zum Eigenen. Am nahenden historisch bedeutenden 8. Mai treten wir am "Wochenende für Moria" in diesem Jahr für ein menschenwürdiges und solidarisches Miteinander ein und wenden uns entschieden gegen die Verrohung und Gleichgültigkeit, mit der sich ein politisches System an der Würde und den Rechten von Menschen vergeht und dabei sich selbst und uns alle verletzt. 

Die Autoren

Sabine Krause ist Professorin für Erziehungswissenschaft an der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck.

Hans Karl Peterlini ist Universitätsprofessor für Allgemeine Erziehungswissenschaft und Interkulturelle Bildung, an der Universität Klagenfurt. Er ist Initiator und Leiter des UNESCO Chair „Global Citizenship Education – Culture of Diversity and Peace“.

Michelle Proyer ist TT-Professorin für Inklusive Pädagogik am Institut für Bildungswissenschaft an der Universität Wien und Mitbegründerin des Vereins BeeFLIP.

Offener Brief

Unter dem Titel „Bildung darf nicht flüchten“ haben Bildungswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler in Österreich einen Offenen Brief verfasst, um auch für Geflüchtete bessere Bedingungen und Bildungsmöglichkeiten einzufordern. Infos zum Offenen Brief finden Sie hier: https://beeflip.at/offener-brief/

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