Ein Frühsommer der Befreiung – mit Neubeginn

Wie unterschiedlich Zeitzeugen das Kriegsende erlebten und schilderten.

Man schreibt den 9. Mai 1945. Einen Tag nach seinem Ende meldet sich das „Tausendjährige Reich“ überraschend ein letztes Mal: Der Radiosprecher verkündet um 20.30 Uhr über den einzigen verbliebenen Reichssender in Flensburg: „Das Oberkommando der Wehrmacht gibt bekannt: Seit Mitternacht schweigen nun an allen Fronten die Waffen.“ Dabei gibt es dieses OKW gar nicht mehr. Es hat tags zuvor kapituliert.

Am 8. Mai vor 76 Jahren endete (vorerst nur in Europa) ein Albtraum, für viele begann ein neuer. Die Erinnerungen frisch zu erhalten, ist die Absicht der Journalisten Hauke Goos und Alexander Smoltczyk. Sie hatten die Gespräche mit Zeitzeugen schon im Vorjahr im „Spiegel“ publiziert, manches ist daher dem Abonnenten noch gut in Erinnerung.

In einem Kriegsgefangenenlager der US-Army bei Pisa durchforstet der spätere CDU-Politiker Hans-Jochen Vogel täglich die amerikanische Zeitschrift „Stars and Stripes“ und übersetzt Wichtiges für seine Mitgefangenen ins Deutsche. So auch die Kapitulationserklärung. Er wird bald darauf entlassen und kann ein Wiedersehen mit den Eltern feiern. Vogel wird eine zentrale Rolle in der Bundesrepublik spielen.

Bei Greifswald gerät ein junger Bursche vom „Volkssturm“ in russische Gefangenschaft. Hans Modrow ist 17 und will via Bahndamm nach Hause, nach Jasenitz in Westpommern. Doch er läuft der Roten Armee direkt in die Hände, wird in die Sowjetunion transportiert, dort zum Antifaschisten umerzogen. Am Ende seiner langen Karriere in der „Deutschen Demokratischen Republik“ ist er 1990 deren letzter Regierungschef.

In einem belgischen Kriegsgefangenenlager hört der bisherige Oberleutnant Helmut Schmidt den Vortrag eines Ritterkreuzträgers, der aber als religiöser Sozialist auch an das Weiterleben seines Volkes denkt. Er heißt Hans Bohnenkamp und spricht über „Verführtes Volk“. Danach, sagt Schmidt später, sei er vom Nationalsozialismus geheilt gewesen.

„Wer plündert, wird erschossen“, lautet der klare Befehl. In Hamburg erlebt die 11-jährige Irmtraud Folgner in Folge Traumatisches. Ihr Cousin birgt einen „Volksempfänger“ aus einem Trümmerhaufen und nimmt diesen mit. Er wird dabei beobachtet und zum Tode verurteilt. Folgners Vater ist ein hoher Offizier und könnte den Verwandten retten, tut es aber nicht. Die Feindschaft zwischen den beiden Familien zieht sich danach über eine ganze Generation.

Als Martin Walser gern Zäune strich

Der Schriftsteller Martin Walser, Jahrgang 1927, erlebt das Kriegsende als Gebirgsjäger in Garmisch-Partenkirchen. Unter französischer Besatzung lässt es sich durchaus leben. Bis zum 14. Juli müssen im Dorf alle Gartenzäune in den Farben Blau-Weiß-Rot angestrichen werden. Walser tut das mit Hingabe: „Ich war gerettet, und es war ein Sommer wie seither kein anderer!“

Im Pazifik wird in diesen Tagen immer noch gekämpft. Die Amerikaner müssen unter hohen Verlusten Insel für Insel von den Japanern zurückerobern. Thomas Mann notiert ins Tagebuch, Nürnberg sei als Schauplatz für einen Monsterprozess gegen die deutschen Kriegsverbrecher vorgesehen: „Göring soll der Erste an der Reihe sein . . .“ Die Deutschen, aber nicht nur sie, stehen an der Pforte einer völlig neuen Lebenswirklichkeit.

Hauke Goos, Alexander Smoltczyk

„Ein Sommer wie seither kein anderer“
DVA, 235 S., 24 Euro

("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.04.2021)

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