Buch der Woche

Singapur liegt an der Ostsee

Judith Hermann erzählt diesmal vom Leben an der Küste.
Judith Hermann erzählt diesmal vom Leben an der Küste.Andrea Labes
  • Drucken

Judith Hermanns erzählt in ihrem Roman „Daheim“ vom Bleiben und vom Weggehen, vom Jungsein und vom Altwerden.

Es gab eine Zeit, da war die Ich-Erzählerin dieses Romans noch jung. Sie lebte im fünften Stock eines Blocks mit Blick auf eine Tankstelle (stimmt nicht, sagt später ihr Exmann, sie wohnte in der Beletage eines Altbauhauses). Und sie arbeitete in einer Zigarettenfabrik am Fließband (nicht wahr, sagt ihr Exmann, sie führte damals im adretten Kostüm Besucher durch die Produktionshallen). Jedenfalls verbrachte sie die Sommerabende oft auf dem Balkon, sie „saß in der Unterwäsche draußen, bis es spät und endlich dunkel wurde. In den Wohnungen gingen nach und nach die Lichter an, die Scheinwerfer der Autos auf der Ausfallstraße flammten auf, die Sonne war weg, die Wärme blieb.“
Ein Tag glich dem anderen. Ein seltsam genügsames Leben für eine junge Frau. Doch als sich die Erzählerin eines Abends von der Tankstelle ein Eis holt, spricht ein Zauberkünstler sie an. Er wolle mit ihr eine Kreuzfahrt nach Singapur unternehmen, sie möge doch seine zersägte Jungfrau sein, klein genug für den Kasten sei sie ja. Sie sagt zu. Und fährt dann doch nicht.

Eine versäumte Gelegenheit. Wieder einmal. Wie oft passiert in Judith Hermanns Büchern nichts? Oder nicht das, was wir erwarten würden, der Betrug, der große Ausbruch, die überraschende Wendung? Als ob die Autorin sich in ihren Erzählungen („Sommerhaus, später“, „Lettipark“) und Romanen für die verpassten Chancen mehr interessierte als für die ergriffenen, für das Leben mehr als für seine Möglichkeiten. Aber dann geschieht ja doch etwas. Es mag nicht spektakulär erscheinen. Doch es ist, bei näherem Hinsehen, gewaltig.

Mittlerweile sind dreißig Jahre vergangen, die Ich-Erzählerin hat in der Zwischenzeit einen Mann kennengelernt, eine Tochter geboren und beim Aufwachsen begleitet, doch jetzt ist die Ehe gescheitert, das Kind auf fernen Schiffen unterwegs, und unsere Heldin – ja, nennen wir sie so, wieso soll denn dieses Leben nicht heldenhaft sein? – zieht ans schlickige Meer, an die Ostsee, wo jeder Bewohner einen Tidenkalender besitzt, die Nächte noch dunkel sind und ihr Bruder ein heruntergekommenes Strandlokal gepachtet hat. Dort hilft sie aus.

Judith Hermann erzählt in „Daheim“, ihrem zweiten Roman, vom Zuhausebleiben. Aber auch vom Gehen. Vom Jungsein. Und dabei vom Altwerden. Und sie tut dies behutsam und geduldig, scheinbar schlicht, doch in einer Schlichtheit, die den Leser nicht von einer Seite zur anderen treibt, weiter, weiter, bis zum Ende der Geschichte, sondern ganz im Gegenteil: verweilen lässt.

Denn wenn man verweilt, ist in diesem verlassenen Nest zwischen Schweinefarmen und Fischkuttern allerhand zu erleben: Der Wind reißt die Türe des kleinen Häuschens auf. Ein Marder macht nächtens Krach, in die aufgestellte Falle verirrt sich eine Katze. Ein Mann lädt unsere – namenlos bleibende – Heldin zum Essen ein und serviert aufgetaute Schnitzel. Und eine neue Freundin, Mimi, kommt vorbei auf ein Glas Wein und nimmt sie mit zum Schwimmen. Manchmal meldet sich die Tochter, wenn das WLAN stark genug ist. Manchmal geht sie allein durch die Nacht: „Die Gräben sind ausgetrocknet, zugewuchert von Brombeerdickicht, in den Hecken rascheln die Nachttiere, und die Zikaden zirpen. Die Felder riechen herb nach Phazelie und Luzerne, darunter nach Gülle, nach heißem Teer, sie sind endlos, viel zu groß.“ Manchmal schreibt die Heldin an ihren Exmann, der in der Stadt zurückgeblieben ist, knappe, freundliche Zeilen: „Seitdem ich hier bin, trinke ich am Morgen nicht mehr Darjeeling mit Honig, sondern Assam mit Milch. Und du? Was trinkst du, seitdem Ann und ich weg sind und du ganz alleine bist?“

So baut sich eine Frau Ende vierzig ein neues Leben auf, indem sie Assam mit Milch trinkt und lernt, wie Luzerne riechen. Indem sie einen Ausflug an die Mole macht. Oder nach der Arbeit zu einem kurzen Tratsch ins Führerhäuschen eines Traktors steigt – mit dem Mann, der für sie Essen aufgetaut hat, der mit ihr geschlafen hat. Doch das hier ist kein Lob des kleinen Glücks. Dafür ist zu vieles zu brüchig, zu bedroht. Da ist Nike, die Freundin des Bruders, die trotz ihres unpassend jugendlichen Alters kaum mehr Zähne im Kiefer hat, die kommt und geht, wie es ihr passt, und erzählt, ihre Mutter hätte sie als Kind tagelang in eine Holzkiste gesperrt. Da ist diese Landschaft: vertrocknete Wiesen, darbende Rosen im Vorgarten, ein schmutziges Meer. Es regnet nicht. Früher hat es geregnet. Jetzt nicht mehr.

Nein, hier ist nichts heil, nicht besser, weil ländlich – und Adril, der Bauer mit den Schnitzeln in der Tiefkühltruhe, herrscht über einen von allen anderen Menschen verlassenen Hof mit 1500 Schweinen, was jetzt auch nicht gerade als idyllisch durchgehen kann. Überall riecht es nach Mist. Adril riecht nach Mist.

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.