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Andere Zeiten

Was den russischen DichterSergej Jessenin mit Kurt Cobain verbindet. Ein Besuch in Konstantinowo.

Unlängst besuchte ich das Dorf Konstantinowo. Es liegt zweieinhalb Stunden südlich von Moskau am Fluss Oka. Der Wasserstand war nach dem langen, schneereichen Winter hoch, sodass die Anlegestelle des Örtchens überschwemmt war. Das war nicht schlimm: Schiffe waren weit und breit keine zu sehen.

Am hohen rechten Ufer der Oka stehen ein paar Holzhäuschen sowie ein Museum. Es war der Anlass meines Besuchs. In Konstantinowo wurde im Jahr 1895 Sergej Jessenin geboren. Er ist ein in Russland sehr bekannter Dichter, ein Zeitgenosse Bloks und Majakowskijs, der mit den beiden stilistisch jedoch nichts gemein hat. Jessenin war ein Poet, dessen traditionelle Verse von der Natur und der inneren Einsamkeit handeln. Obwohl er sein Elternhaus in der Jugend verließ und nach Moskau und St. Petersburg ging, schien er sich sein Leben lang nach dem idyllischen Konstantinowo zu sehnen.

Heute kann man in dem Ort sein Elternhaus, die Dorfschule und das Haus des Popen besichtigen. Schnell stellt sich heraus, dass alle Gebäude neu sind, da die historischen Häuser einem Feuer zum Opfer fielen. In den Häusern sitzen mittelalte Damen, die wie auf Knopfdruck Jessenin-Verse zitieren und voller Ehrfurcht Details aus dem Leben des Genies zum Besten geben. Dichter sind in Russland Halbheilige. Mindestens.

Später fand ich heraus, dass Jessenin vier Ehefrauen und einige Liebhaberinnen gehabt hat, dem Alkohol verfallen war und auch recht ordinäre Verse verfasste, bevor er sich in einem Hotel im Alter von 30 Jahren an der Heizung strangulierte. Jessenin, der Kurt Cobain der russischen Poesie: So sollte man ihn der Jugend näherbringen. ⫻

jutta.sommerbauer@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 01.05.2021)

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