Brisantes Jubiläum

100 Jahre Nordirland - und wieder ist die Region tief gespalten

Die "Friedensmauern" trennen seit den 1970er-Jahren immer noch protestantische und katholische Viertel .
Die "Friedensmauern" trennen seit den 1970er-Jahren immer noch protestantische und katholische Viertel .APA/AFP/PAUL FAITH
  • Drucken

Der Brexit hat Nordirland erneut gespalten. Ärger und Misstrauen gibt es sowohl für London als auch für Dublin. Und der Politologe Cathal McCall ortet gar die Möglichkeit zu einer Vereinigung mit Irland in den nächsten zehn Jahren.

Der 3. Mai 1921 gilt Historikern zufolge als Geburtsstunde Nordirlands. An diesem Datum trat das Gesetz in Kraft, das die Abspaltung Nordirlands vom Rest der irischen Insel manifestierte. Anders als Irland, das sich 1922 zur unabhängigen Republik abspaltete, blieb Nordirland seitdem britisch. Die Frage, ob das Land zum Vereinigten Königreich gehören oder sich mit der Republik Irland wiedervereinigten sollte, führte zu einem jahrzehntelangen, blutigen Bürgerkrieg. Und zum 100-jährigen Jubiläum nehmen die Spannungen in der Region wieder zu - unter anderem aufgrund neuer Regeln für den Handel mit Großbritannien, die durch den Brexit entstanden sind.

Königin Elizabeth II. hat die Anstrengungen vieler Menschen für den Friedensprozess in der Region gewürdigt. "Es ist klar, dass Versöhnung, Gleichheit und gegenseitiges Verständnis nicht selbstverständlich sind und weitere nachhaltige Standhaftigkeit und Engagement erfordern", schrieb die Queen in einer am Montag veröffentlichten Botschaft.

Der Friedensprozess in der Region sei der Verdienst einer Generation von Politikern und Menschen, die den Mut und die Vision gehabt hätten, Versöhnung über Spaltung zu stellen.

Johnson will „bessere und hellere Zukunft schaffen"

Auch Premierminister Boris Johnson würdigte den Jahrestag: "Es ist wichtig, dass wir innehalten, um über die komplexe Geschichte der vergangenen 100 Jahre nachzudenken", schrieb Johnson auf Twitter. Menschen in Nordirland, Irland, dem Vereinigten Königreich und in aller Welt nähmen den Jahrestag sehr unterschiedlich wahr. "Während dies ein Moment der gemeinsamen Reflexion ist, ist es aber auch eine wichtige Gelegenheit, um Nordirland gemeinsam zu feiern und für all seine Menschen eine bessere und hellere Zukunft zu schaffen."

Während das Jubiläum für das unionistische Lager in Nordirland ein wichtiges Ereignis ist, sieht das republikanisch-nationalistische Lager keinen Grund zum Feiern: Deren mehrheitlich katholische Anhänger wünschen sich eine möglichst schnelle Wiedervereinigung mit der Republik Irland und lehnen die Union mit Großbritannien ab.

Soziologin ortet gespaltene Gesellschaft

100 Jahre nach ihrer Entstehung findet sich die britische Provinz Nordirland in einer ähnlich angespannten Situation wieder wie damals. Wie auch vor 100 Jahren sei die Gesellschaft tief gespalten über internationale Verträge, die über ihren Kopf hinweg verhandelt würden, erklärte die nordirische Konfliktforscherin Katy Hayward von der Queen's University Belfast der Deutschen Presse-Agentur (dpa).

"Ärger und Misstrauen gegenüber dem Handeln in London und Dublin spiegeln sich in lokalen Spannungen wider." In den vergangenen Wochen hatte es mehrfach Krawalle und gewaltsame Zusammenstöße mit der Polizei gegeben.

Neben den Auswirkungen der Pandemie und organisierter Bandenkriminalität hat auch der Brexit maßgeblich dazu beigetragen, dass die Spannungen in der ehemaligen Bürgerkriegsregion wieder zugenommen haben. Nordirland hat dadurch nämlich einen Sonderstatus bekommen: Trotz des britischen EU-Austritts gelten für die britische Provinz weiterhin die Regeln des EU-Binnenmarktes, weshalb für Waren aus Großbritannien neue Kontrollen und Formalitäten notwendig werden. Festgehalten ist dies im sogenannten Nordirland-Protokoll, das Teil des von London und Brüssel ausgehandelten Brexit-Deals ist.

Neue Barrieren in der Irischen See

Teile der Gesellschaft fühlten sich dadurch verletzt und betrogen, so Hayward. "Diesmal ist es das unionistische Lager." Die mehrheitlich protestantischen Unionisten wünschen sich eine möglichst enge Bindung an Großbritannien und befürchten durch die neuen Barrieren in der Irischen See eine schleichende Abkopplung von Großbritannien. Sie wollen das Protokoll daher am liebsten ganz abschaffen.

Das katholisch-nationalistische Lager hingegen will früher oder später ein Referendum abhalten und damit die Wiedervereinigung mit der Republik Irland erwirken. In der nordirischen Regierung ist dieses Lager durch die republikanische Partei Sinn Fein vertreten, die gemeinsam mit der unionistischen Democratic Unionist Party (DUP) die Geschicke des Landes lenkt. Auf diese Teilung der Macht einigten sich die beiden Seiten in dem als Karfreitagsabkommen bekannten Friedensvertrag. "Der bedeutsamste Unterschied verglichen mit der Situation vor 100 Jahren ist die Existenz des Karfreitagsabkommens von 1998. Aber das ist wie nie zuvor unter Druck geraten", so die Soziologin Hayward.

Politologe über mögliches vereintes Irland in zehn Jahren

Schon in zehn Jahren könnte die derzeitige britische Provinz zur Republik Irland gehören, sagt der Politik-Professor Cathal McCall von der Queen's University Belfast im Gespräche mit der Austrai Presse Agentur. "Die Dinge bewegen sich sehr schnell."

Auch die ganze Brexit-Causa habe ja erst vor vier oder fünf Jahren begonnen, und das habe "wirkliche Turbulenzen" zur Folge gehabt, "eine Verfassungskrise im Vereinigten Königreich" und auch Auswirkungen auf Irland und die irische Regierung, gibt der Experte für Grenzfragen zu bedenken. In der Politik seien Entwicklungen manchmal sehr schnell, und dann bewegten sich die Dinge über lange Strecken hinweg wieder sehr langsam. "Ich glaube, wir müssen uns auf ein paar heftige, schnelle Phasen einstellen, in denen die Dinge turbulent sind."

In einem Jahr, im Mai 2022, finden in Nordirland die nächsten Regionalwahlen statt. Erwartet werde dabei ein Sieg der irisch-nationalistischen Sinn Fein, "was für Unionisten kein freudiges Ergebnis wäre", sagt McCall. "Denn dann würde Sinn Fein den First Minister (Regierungschef) stellen." Auch habe die Alliance Party, die sich als weder nationalistisch noch unionistisch begreift, in den vergangenen Jahren viel Zulauf erhalten. "Sie sind jetzt in der politischen Arena ein bedeutender Player" - und die Partei sei "explizit offen für eine konstitutionelle Diskussion über ein vereinigtes Irland".

(APA/dpa)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.