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War der Holocaust nur eine Ausgeburt des Kolonialismus?

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Der Historikerstreit um die Einzigartigkeit der deutschen Judenvernichtung flammt wieder auf – unter neuem Vorzeichen.

„Wie ein halb zu Tode gehetztes Wild“ wurden die Aufständischen gejagt. Die wasserlose Wüste „sollte vollenden, was die deutschen Waffen begonnen hatten: die Vernichtung des Hererovolkes“. So rühmte der Generalstab die Gräueltaten von 1904 an den Hirten im heutigen Namibia. Zwar empörte sich die Öffentlichkeit zuhause über die Brutalität des verantwortlichen Generals, er wurde abberufen, aber das war es schon zu spät: Von den rund 70.000 Herero überlebten nur 16.000.

Es war der erste Völkermord des 20. Jahrhunderts, seit fünf Jahren erkennt Berlin ihn als solchen an. Nun hat sich an ihm ein neuer Historikerstreit entfacht. Man erinnere sich an den alten: 1986 relativierte Ernst Nolte den Holocaust als Folge der Verbrechen des Stalinismus. Noltes Gegner rund um Habermas beharrten auf der Einmaligkeit der Shoa und belegten jeden Vergleich mit einem Bannfluch.

Schon damals schüttelten viele den Kopf: Natürlich war die industrielle Produktion von Leichen, mit dem Ziel der Vernichtung einer Bevölkerungsgruppe um ihrer Vernichtung willen, historisch einmalig. Und ebenso natürlich passiert auch Einmaliges nie isoliert. Jeder Vergleich, der Bezüge aufdeckt, einordnet, verstehbar macht, ohne zu verharmlosen, ist willkommen.

„Provinzielle“ Erinnerungskultur

Dieser so einfache wie mühsam erreichte Konsens zerbricht nun wieder. Der deutsche Historiker Jürgen Zimmerer zieht seit Jahren eine direkte Linie vom Herero-Genozid zu den Verbrechen der Nazis. Im Verein mit dem US-Forscher Michael Rothberg fordert er „multidirektionale Erinnerung“. Die wahre Erbsünde sei der Kolonialismus und der Rassismus gegen Schwarze, der Holocaust ein abgeleiteter Spezialfall. Die auf ihn fokussierte deutsche Erinnerungskultur bezeichneten die beiden in der „Zeit“ als „provinziell“.

Drei Kommentatoren, die sich dagegen verwahrten, schoben sie mit raunenden Andeutungen ins rechte Eck. Wer die Thesen der „Postcolonial Studies“ kritisiert, versuche nur „die unkritische Rettung einer europäischen Moderne, die Sicherung einer weißen hegemonialen Position“ – da ist er, der Generalverdacht, unbewiesen, aber auch unwiderlegbar wie jede Ideologie.

Wie kriegt man da den Kopf frei? Als Jean-Paul Sartre sich 1948 an die Deutschen wandte, forderte er von ihnen keine Reue, auch wenn sie daran ein „inneres Gefallen“ finden mochten: „All das ist nur nur Passivität, Blick in die Vergangenheit, daraus lässt sich nichts gewinnen.“ Wie also umgehen mit der Schuld? Mit Verantwortungsgefühl, das zum Handeln führt, „für eine fruchtbare, positive Zukunft“. Zu Misstrauen war damals, drei Jahre nach Kriegsende, ungleich mehr Anlass als heute. Es kann so wohl tun, darauf zu verzichten.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.05.2021)

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