Am Herd

Ruhe! Wir sind Wiener!

Ich habe letzten Sonntag beim Schwimmen einen Energetiker kennengelernt.
Ich habe letzten Sonntag beim Schwimmen einen Energetiker kennengelernt.(c) imago/allOver (KTH)
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Ich habe letzten Sonntag beim Schwimmen einen Energetiker kennengelernt. Wann bitte, vor Corona, wäre mir so etwas passiert? Über eine neue Offenheit.

Wir Wiener haben ja eine Menge ungeschriebener Regeln. Das muss so sein. Schließlich leben wir auf engstem Raum beisammen. Deshalb weichen wir auf dem Gehsteig aus, ohne uns in die Augen zu schauen. Starren im Lift ins Narrenkastl oder stur auf die Aufzugsknöpfe. Wir sitzen am selben Kaffeehaustisch, ohne den anderen zu fragen, ob der Apfelstrudel eh schmeckt. Und wenn wir uns auf einem der Stege an der Alten Donau begegnen, dann suchen wir schweigend ein Plätzchen, kramen nach Sonnencreme und tun dabei, als wären wir allein, allein mit der Sonne und dem Wasser und den zwei Schwänen, die regelmäßig vorbeikommen, um nach Futter zu betteln. Und nie, nie fragen wir, wie kalt das Wasser ist.


Der erste Sonnenbrand. So ist das in Wien. So war das in Wien, bis letzten Sonntag. Da war kurz Sommer, die ganze Stadt stürmte ins Grüne, für ein Picknick, eine Radtour, einen ersten Sonnenbrand, und auch ich lag nicht allein auf meinem Lieblingssteg. Da war noch einer. Ein Energetiker nämlich. Was ich weiß, weil ich mit ihm gesprochen habe! Keine Ahnung, wer als erster die Regeln brach, vielleicht sogar ich, vielleicht habe ich, als ich auf der untersten Stufe der glitschigen Leiter stand, so etwas wie „Das ist ja scheißkalt“ gerufen, jedenfalls erfuhr ich in der folgenden Stunde, dass er professionell Karten legt und Astrologie betreibt, im nächsten Winter Eisschwimmen versuchen will und Klienten aus Deutschland hat. Und ich sagte ihm, dass ich nicht an Horoskope glaube, dafür dem Podcast von Christian Drosten. Und dass das hier mein Lieblingssteg ist, weil das Bootshaus gegenüber so herzig ist. Später kamen noch ein Student, ein Italiener, zwei Schülerinnen und ein Vater mit fünf Mädchen dazu – und mit allen wechselte ich zumindest zwei, drei Worte. Also mit den Mädchen nicht, die hatten zu viel damit zu tun, sich gegenseitig einzureden, dass das Schwimmen bei 15 Grad eh ursuper ist. Keine hielt es länger als zehn Sekunden aus.

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