Essay

Friedrich Dürrenmatts Werk ist paradox

In den „Stoffen“ erleben wir Friedrich Dürrenmatt als Nihilisten, der sich fröhlich eine Welt ohne Hoffnung ausmalt.
In den „Stoffen“ erleben wir Friedrich Dürrenmatt als Nihilisten, der sich fröhlich eine Welt ohne Hoffnung ausmalt.ullstein bild via Getty Images
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Das neu aufgelegte „Stoffe-Projekt“ Dürrenmatts ist vielleicht der schrägste und eigentümlichste Rechenschaftsbericht, den es in der deutschsprachigen Literatur je gegeben hat: ein Buch, das erzählt, was sein Autor nicht zu erzählen vermocht zu haben behauptet.

Ich war achtzehn Jahre alt, als mir die zwei Bände von Dürrenmatts „Stoffen“ in die Hände fielen. Dürrenmatt war vor Kurzem gestorben, ein weithin verehrter, aber doch ein wenig aus der Mode gekommener Großschriftsteller. Ich war schon seit Jahren Dürrenmatt-Bewunderer. Sein Essay „Albert Einstein“ war für mich eine Einführung in die philosophischen Implikationen der Relativitätstheorie gewesen, sein „Romulus der Große“ hatte mir gezeigt, wie grandios sich Spott, Humor und sanftes Pathos beim Erzählen geschichtlicher Ereignisse einsetzen lassen, und „Der Besuch der alten Dame“, zunächst als Schullektüre, dann in einer Aufführung am Burgtheater, hatte mir beigebracht, wie böse und zugleich moralisch kompromisslos zeitgenössisches Drama von den moralischen Kompromissen erzählen konnte, in denen wir unsere Leben zubringen. Dazu hatten Dürrenmatts Fernseh-Interviews mein Bild vom idealen Schriftstellerdasein geprägt: Da sah man einen ruhigen und heiteren Mann, dessen scheinbar behäbiges Schweizerdeutsch vor Intelligenz funkelte und den die Rätsel der Kosmologie mehr interessierten als die Tages- und die Kulturpolitik.

Zu seinem siebzigsten Geburtstag, den er leider nicht mehr erlebte, zeigte das Schauspielhaus Zürich eine von meinem Vater Michael Kehlmann inszenierte Produktion von „Der Meteor“ – eines seiner unterschätzten Dramen, in dem ein Literaturnobelpreisträger stirbt und als grundlos Auferstandener, der nicht zu sterben vermag, immer wieder und wieder ins Leben zurückgeworfen wird. Das Stück endet in einem singend aus dem Himmel herabsteigenden Chor von Heilsarmeesoldaten, der unverdrossen Jubelhymnen singt, während der hochgeehrte Dichter verzweifelt darum fleht, endlich sterben zu dürfen. Eine wildere Mischung von Satire, Pathos und grimmiger Selbstironie hatte ich nie gesehen, und ich konnte kaum fassen, dass Dürrenmatt ausgerechnet dieses Stück für die Feier seines Geburtstags ausgewählt hatte.

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