Oscar-Gewinner

"Nomadland" endlich im Kino: Eine Frau düst der Krise davon

Frances McDormand in "Nomadland"
Frances McDormand in "Nomadland"(c) Searchlight / Disney / 20th Century Studios
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Am Donnerstag startet Chloé Zhaos „Nomadland“ nach langem Warten auch bei uns auf der großen Leinwand. Frances McDormand brilliert darin als Wohnmobil-Vagabundin auf Freiheitssuche in den USA.

Mary L. Trump, Psychologin und abtrünnige Nichte des letzten US-Präsidenten, nannte die reflexartige Abwehrhaltung ihres narzisstischen Onkels gegenüber unangenehmen Wahrheiten „toxische Positivität“. Jeden, der sich 2020 affirmativ auf Trumps Wahlniederlage berief, als illoyalen Schwarzseher zu brandmarken, zeugte in ihren Augen von fanatischem Optimismus. Wie könnte aber ein kritisch-authentischer aussehen? Einen Vorschlag unterbreitet „Nomadland“: Chloé Zhaos Oscar- und Venedig-Siegerfilm, der nun nach langer coronabedingter Verzögerung (und mit vielen Vorschusslorbeeren) regulär in den heimischen Kinos startet.

Hauptfigur Fern, eine über 60-jährige, von Frances McDormand einfühlsam verkörperte Wanderarbeiterin, bezieht ihre lebensbejahende Einstellung nicht aus der Verdrängung ihrer tragischen Vergangenheit. Oder indem sie sich ihre Notlage als Wohnungslose schönredet. Sie ist die wandelnde Antithese zu jeder Weltsicht, die Zweifel am Status quo als Mieselsucht stigmatisiert.

Melancholie und Menschenliebe im Van

Ferns hartnäckige Trauer um den vor Jahren verstorbenen Gatten, um ihr gemeinsames Leben in einer Industriestadt in Nevada, in der es seit der Weltwirtschaftskrise keine Arbeit mehr gibt, wird im Film nicht als unsozial bloßgestellt. Stattdessen erscheint sie als Triebkraft eines unaufdringlichen Mitgefühls gegenüber Fremden. Und ihr Aufbruch ins Unbekannte kommt keiner Selbstbefreiung gleich. Er ist ökonomischer Alternativlosigkeit geschuldet. Die Freude an neuen Bekanntschaften, am Entdecken der prachtvollen Weiten Amerikas (deren Bildgewalt in diesem Film förmlich nach der großen Leinwand schreit) nimmt daran aber keinen Schaden.

Nicht Weltflucht und Abenteuerlust, sondern Melancholie und Menschenliebe sind Beweggründe dieser oft unnahbaren, aber nie unsensiblen Protagonistin. Was viel über die Gesellschaftsskepsis strauchelnder Mittelständler im US-Hinterland erzählt. Die Industrie hat ihr Versprechen lebenslänglicher Absicherung nicht erfüllt. Das politische System bot in der Krise keinen Rückhalt. Fern lehnt die Wiederkehr ins fragile Bürgerdasein ab. Dafür wächst ihr Glaube ans uramerikanische Freiheitsideal, das jedoch seine eigenen Kosten mit sich bringt.

Der Van, mit dem Fern ihrem Heimatort entflieht, ist eng. Und im Winter kalt. Ein Motorschaden löst da schon Existenzängste aus. Wie groß der Unabhängigkeitsgenuss in der Prärie auch sein mag, er setzt Teilzeitarbeit voraus. Fern schuftet als Paketpackerin bei Amazon und als Sanitärbedienstete in einer Parkanlage, nur um sich Sprit leisten zu können. Wenn sie den Blick in die Ferne schweifen lässt, liegt darin ebenso viel Glück wie Ernüchterung.

Nomaden tragen keine MAGA-Kapperln

Zhaos Roadmovie ist in vielen Nebenrollen mit echten Vagabunden besetzt. Einige kommen bereits in der Sachbuchvorlage von Jessica Bruder („Nomaden der Arbeit – Überleben in den USA im 21. Jahrhundert“) zu Wort. Mit semidokumentarischen Zugängen hat man gemeinhin kaum Chancen, in der Oscar-Königsdisziplin „Best Picture“ zu punkten. Ausschlaggebend für den Triumphzug des Films durch die prominentesten Preisverleihungen der Filmbranche war wohl, dass er den zwiespältigen US-Zeitgeist perfekt widerspiegelt.

Neben Naturkulissen, die an Western-Klassiker erinnern, durchstreift Fern verwaiste Betonwüsten und verwilderte Felder. Und trifft vom Abschwung betroffene Außenseiter. MAGA-Kapperln („Make America Great Again“) trägt hier niemand. Das Festival für motorisierte Freigeister, das die Hauptfigur zwischen ihren Saisonjobs frequentiert, scheint eher den progressiven Ideen eines Bernie Sanders zugetan. Bob Wells, der linke Kopf dieser Veranstaltung, organisiert Workshops zur Bewältigung von „Haushaltsproblemen“ und wohltuende Lagerfeuerabende. Wenn dabei Solidaritätsgefühle aufkeimen, scheint die politische Botschaft von „Nomadland“ durch: Humanität und Hilfsbereitschaft sind bessere Widerstandsgesten als Rachsucht und Ressentiments, von denen nur rechte Rattenfänger profitieren.

Trotz der Lobeshymnen, die amerikanische Kritiker auf Zhaos Film anstimmten, murrten manche über seinen Hang, Elend zu romantisieren. Der Vorwurf ist nicht haltlos, aber auch nicht stichhaltig. Klar: Fern macht ihre Morgentoilette am Tankstellen-WC, während Motten magisch die Neonröhren umschwirren. Ihr anstrengendes Tagwerk im Großbetrieb erledigt die Pragmatikerin mit Leichtigkeit. Obwohl die Verhältnisse sich stetig verschlechtern, werden sie laufend durch neue Freundschaften kompensiert. Sogar beim Aufklauben von Müll wird noch fröhlich herumgetänzelt.

Toxisch wirkt diese Positivität trotzdem nie, weil sie die Entbehrungen eines Lebens auf der Straße nicht verharmlost. Avancen eines anderen Nomaden (David Strathairn) schlägt Fern aus. Einmal friert sie sich im unbeheizten Wohnwagen fast zu Tode. Als filmische Sozialkritik ist „Nomadland“ Gegenmodell und Anklage in einem. Ein zärtlich inszeniertes Plädoyer für mehr Menschenliebe, das in seiner Darstellung realer Missstände ungeschönt und ehrlich bleibt. Dieser Optimismus ist kein Euphemismus.

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