Culture Clash

Ein anständiges Leben

Wann ist ein Leben gut? Und wann ein Mensch? Und wann die Gesellschaft? Witold Pilecki vermag uns viel darüber zu sagen. Lernen Sie ihn kennen!

Kürzlich war der 120. Geburtstag von Witold Pilecki, am vergangenen Dienstag war sein 73. Todestag. Pilecki war der einzige Mensch, von dem man weiß, dass er sich (im Dienst der polnischen Untergrundarmee) freiwillig verhaften ließ, um nach Auschwitz zu kommen und dort Widerstand aufzubauen. Pilecki ist 1943, nach 945 Tagen, aus Auschwitz geflohen. Er hatte zwar eine effiziente Organisation aufgebaut und Berichte nach draußen geschmuggelt, aber die erhoffte Waffenlieferung oder gar ein Angriff durch Untergrundarmee oder Alliierte hatte sich als Illusion erwiesen.

1948 beginnt Pilecki, die Gulags der Sowjets in Polen zu erkunden, und wird als Spion hingerichtet. Darum wird sein Tun erst spät bekannt. Seit 2013 gibt es eine deutsche Übersetzung der englischen Übersetzung seines 1945 verfassten Augenzeugenberichts über Auschwitz: in seiner minutiösen Auflistung der Gewalt schwer verkraftbar, aber durch seinen lausbübischen Ton auch wieder anziehend. Mir hat sich darin – außer der noch allgemein anerkannten Einsicht, dass nie wieder Menschenverachtung Grundlage einer Staatsdoktrin sein darf – zweierlei erschlossen:

Das eine geht von Pileckis Beobachtung aus: „Das Lager war eine Bewährungsprobe für den Charakter. Manche glitten ab in einen moralischen Sumpf. Andere haben sich einen Charakter feinsten Kristalls gemeißelt.“ Laut Viktor Frankl, auch er ein Auschwitz-Überlebender, gibt es „nur zwei Rassen: die Rasse der anständigen und die Rasse der unanständigen Menschen“. Mir hat dieser Satz mit seiner scharfen Trennlinie nie behagt. Die Lagererfahrung scheint aber zu zeigen, dass es Umstände gibt, die Menschen dazu zwingen, sich ganz auf die eine oder die andere Seite zu schlagen – und es ist wohl eine der vornehmsten Aufgaben der Politik, Zustände zu verhindern, in denen „ein Unanständiger zu sein“ zur anerkannten Option wird.

Das andere ist die Erfahrung Pileckis, dass es ihm psychisch gut ging, weil sein Lagerdasein Sinn hatte. Er war dort, um einen Auftrag zu erfüllen. Das verweist auf Frankls Erkenntnis, dass der Mensch „fast jedes Wie“ ertragen kann, wenn sein Leben „ein Warum“ hat.

Ein anständiger Charakter und ein Sinn im Leben – ist das nicht die Kurzformel für eine gelungene Erziehung und eine gemeisterte Existenz? Wenn dann noch Mut und Humor dazukommen, haben wir das Role Model schlechthin. Der polnische Oberrabbiner Michael Schudrich hat über den katholischen Polen gesagt: „Als Gott den Menschen erschuf, hatte er im Kopf, dass wir alle so werden wie Hauptmann Witold Pilecki.“


Der Autor war stv. Chefredakteur der „Presse“ und ist nun Kommunikationschef der Erzdiözese Wien.

meinung@diepresse.com

www.diepresse.com/cultureclash

("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.05.2021)

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