UNO und Trudeau fordern Aufklärung von Schicksal indigener Kinder

Evelyn Camille (82) überlebte die Zeit an der Kamloops Indian Residential School. 215 andere Kinder nicht.
Evelyn Camille (82) überlebte die Zeit an der Kamloops Indian Residential School. 215 andere Kinder nicht.APA/AFP/COLE BURSTON
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Kanadas Regierungschef droht der katholischen Kirche wegen der Vorgänge in Internaten mit Justiz. Der Papst ernannte einen neuen Nuntius für Kanada.

Nach dem Fund eines Massengrabs mit Überresten von 215 Kindern auf dem Gelände eines früheren Internats für Indigene in Kanada haben UN-Menschenrechtsexperten am Freitag von der Regierung des Landes und dem Vatikan umfassende Aufklärung verlangt. Kanadas Premierminister Justin Trudeau rief seinerseits die katholische Kirche auf, für ihre Rolle in diesen Schulen Verantwortung zu übernehmen. Auch Indigenen-Verbände drängten auf eine öffentliche Entschuldigung des Vatikans.

Eine solche forderte etwa Rosanne Casimir, das Oberhaupt der Tk'emlups te Secwepemc First Nation in der westlichen Provinz British Columbia. Auf der ersten Pressekonferenz seit dem Fund sagte Casimir am Freitag Medienberichten zufolge, ihre indigene Gemeinschaft habe sich kürzlich mit dem örtlichen katholischen Bischof getroffen - aber das reiche nicht. "Wir wollen eine Entschuldigung - eine öffentliche Entschuldigung, nicht nur für uns, sondern für den Rest der Welt", zitierte sie die kanadische Zeitung "The Globe and Mail". "Wir machen die katholische Kirche dafür verantwortlich (...)".

Das Massengrab in der Nähe der Stadt Kamloops in British Columbia war Ende Mai entdeckt worden. Es fand sich auf dem Gelände der Kamloops Residential School, einer Art Umerziehungslager für Kinder kanadischer Ureinwohner, das zwischen 1890 und 1978 in Betrieb gewesen war. Wann und woran die Kinder starben, ist noch nicht bekannt. Einige von ihnen wurden nur drei Jahre alt.

UNO fordert Ermittlungen und Entschädigung für Opfer

Die UN-Menschenrechtsexperten forderten in einer Stellungnahme Kanadas Regierung und den Vatikan auf, umfassende Untersuchungen zu den Todesumständen der Kinder und zu etwaigen Verantwortlichen zu veranlassen. Die Experten sprachen von "abscheulichen Verbrechen" und Menschenrechtsverstößen in den Internaten. Es wäre "schlicht unvorstellbar", wenn der kanadische Staat und der Vatikan die Verantwortlichen ungeschoren davonkommen ließen und sich nicht um eine umfassende Entschädigung kümmerten, hieß es. Ermittlungen seien an allen derartigen Einrichtungen in Kanada nötig, um Folter- und Missbrauchsvorwürfen nachzugehen und womöglich noch lebende Übeltäter zur Rechenschaft zu ziehen.

Die Einrichtung bei Kamloops war nach Angaben von Indigenen die größte ihrer Art in Kanada. Vom 17. Jahrhundert bis in die 1990er wurden solche sogenannten Residential Schools von der Regierung verwaltet und finanziert. Betreiber waren größtenteils Kirchen und religiöse Organisationen.

Es handelt sich um eines der dunkelsten Kapitel in der Geschichte Kanadas: Über Jahrzehnte riss die Regierung Tausende Söhne und Töchter aus ihren Familien und steckte sie in Internate. Dort sollten sie ihre Kultur vergessen - Feste, Lieder, Sprache, Religion - und die Traditionen der europäischen Einwanderer erlernen. Gewalt und sexueller Missbrauch waren praktisch an der Tagesordnung.

Der Missionsorden, der die Schule betrieb, habe seine internen Aufzeichnungen geheimgehalten, sagte Casimir weiter. Die Überreste scheinen von Kindern zu stammen, deren Tod nicht dokumentiert war und die in nicht gekennzeichnete Gräber gelegt wurden.

Trudeau „tief enttäuscht“ von Kirche

Auch Trudeau machte der katholischen Kirche schwere Vorwürfe. Sie sei ihrer Verantwortung nie gerecht geworden und stemme sich noch immer gegen eine rückhaltlose Aufklärung. Er sei "tief enttäuscht" vom Vorgehen der Kirche, die nun endlich Dokumente freigeben und die Opfer der Verbrechen entschädigen müsse.

"Als Katholik bin ich zutiefst enttäuscht von der Position, die die katholische Kirche jetzt und in den vergangenen Jahren eingenommen hat," sagte Trudeau vor Journalisten, wie die Nachrichtenagentur Canadian Press am Freitag (Ortszeit) berichtete. Wenn nötig, werde seine Regierung "stärkere Maßnahmen" ergreifen, um die von den Opferfamilien geforderte Herausgabe von Dokumenten zu erzwingen. Er sei aber "sehr zuversichtlich, dass die religiösen Führer verstehen werden, dass dies etwas ist, an dem sie sich beteiligen müssen".

In Kanada waren ab 1874 rund 150.000 Kinder von Ureinwohnern und gemischten Paaren von ihren Familien und ihrer Kultur getrennt und in kirchliche Heime gesteckt worden, um sie so zur Anpassung an die weiße Mehrheitsgesellschaft zu zwingen. Viele von ihnen wurden in den Heimen misshandelt oder sexuell missbraucht. Nach bisherigen Angaben starben mindestens 3.200 dieser Kinder, die meisten an Tuberkulose.

Die Entdeckung der Kinderleichen auf dem Gelände des ehemaligen Internats nahe der Kleinstadt Kamloops hatte vergangene Woche ein Schlaglicht auf das düstere Kapitel geworfen und landesweit für Erschütterung gesorgt.

Papst ernennt Ivan Jurkovic zu neuem Nuntius

Der Papst ernannte unterdessen den slowenischen Vatikan-Diplomaten Ivan Jurkovic (68) zum neuen Nuntius für Kanada. Dies teilte der Vatikan am Samstag mit. Bisher war Jurkovic Ständiger Beobachter des Heiligen Stuhls bei den Vereinten Nationen und deren Sonderorganisationen in Genf, bei der Welthandelsorganisation sowie Vertreter des Heiligen Stuhls bei der Internationalen Organisation für Migration.

Franziskus traf am Samstag auch mit den beiden im Vatikan ansässigen kanadischen Kardinälen zusammen. Der Papst führte getrennt Gespräche mit Kardinal Michael Czerny und Kardinal Marc Ouellet, berichtete der Vatikan am Samstag. Der Vatikan berichtete zwar nicht, was in den Privataudienzen besprochen wurde. Diplomaten schließen jedoch nicht aus, dass die jüngsten Ereignisse in Kanada nicht zur Sprache kamen.

Viele Kanadier haben den Papst aufgefordert, sich formell für die Rolle der katholischen Kirche in den Internaten zu entschuldigen, die zwischen 1831 und 1996 von verschiedenen christlichen Konfessionen im Auftrag der Regierung betrieben wurden.

Franziskus, der 2013 zum Papst gewählt wurde, hat sich bereits für die Rolle der Kirche im Kolonialismus auf dem amerikanischen Kontinent entschuldigt. Ein Papstbesuch in Kanada ist nicht geplant. Bei einem Besuch in Bolivien im Jahr 2015 entschuldigte sich Franziskus für die "vielen schweren Sünden, die im Namen Gottes gegen die Ureinwohner Amerikas begangen wurden".

(APA/dpa/AFP/KAP)

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