Genetik

Chromatin-Landschaft: Hügel und Täler steuern die Gene

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Chromatin bringt DNA-Stränge in Form. Wiener Forscher untersuchen Pionierfaktoren, die entscheiden, ob eine Chromatin-Formation Krankheit oder Gesundheit für uns bedeutet. Mit Blick auf Therapien gegen Krebs.

Wer zuletzt im Winter übers Land fuhr und es nun im Sommer wieder tut, erkennt, wie sich Landschaften verändern. Dass sich in unseren Zellen andauernd Landschaften ändern, wissen nur die wenigsten. Chromatinlandschaften nennt man die Konstruktionen, auf denen im Zellkern die DNA-Stränge aufgefädelt sind: Sie bestimmen die Form unserer Chromosomen. „DNA liegt ja nicht nackt als Faden herum“, sagt Mathias Müller, Leiter des Instituts für Tierzucht und Genetik der Vet-Med-Uni Wien. Die Träger unserer Erbinformation sind um kugelige Proteine namens Histone gewickelt: Die Hügel und Täler zwischen ihnen sehen wie eine Landschaft aus. Die Form bestimmt, ob DNA an manchen Stellen dicht verpackt ist und unzugänglich für Proteine, die Erbinformationen ablesen. Und ob andere Stellen offen liegen, also von jeglichen Akteuren, die sich für DNA-Stränge interessieren, abgelesen und verändert werden können.

Teil jedes lebenden Wesens

Von dieser epigenetischen Aktivität, die regelt, welche Genabschnitte aktiv sind und welche nicht, hängt alles in unserem Leben ab, von der Embryonalentwicklung über die Gestaltung der Gewebe und Organe bis zur Immunzellenaktivierung. Die Veränderung der Chromatinlandschaft ist also Teil jedes lebenden Wesens. „Das Ganze muss geordnet ablaufen, sonst gibt es ein Chaos“, sagt Müller, der den Spezialforschungsbereich „Chromatinlandschaften prägende Monarchien und Hierarchien“ leitet, der vom Wissenschaftsfonds FWF für weitere vier Jahre verlängert wurde.

Jede Zelle muss Hierarchien folgen, damit sie bei der Umgestaltung der Chromatinlandschaft von aktiven in inaktive Zustände keine Fehler macht. „Ohne geordnete Abläufe würde ein Protein nach links ziehen und ein anderes nach rechts schieben, auch wenn das Gegenteil gebraucht wäre“, erklärt Müller. Moleküle brauchen bei ihrer harten mechanischen Arbeit stets Anleitung. Wenn etwas aus dem Ruder läuft, entstehen Krankheiten oder Entartungen: Zellen, die eigentlich ruhig bleiben sollen, wachsen unaufhörlich – wie es bei Tumoren passiert. Oder Immunzellen, die nur Eindringlinge ausschalten sollen, greifen körpereigene Zellen an – wie bei Autoimmunerkrankungen.

„Um den gesunden Zustand zu erhalten, gibt es in den hierarchischen Abläufen auch einen ,Übermacker‘, einen Monarchen“, so Müller. Dieser Faktor gestaltet die Chromatinlandschaft maßgeblich, damit Transkriptionsfaktoren dort binden können, wo sie sollen. Die große Gruppe der Proteine, die man Transkriptionsfaktoren nennt, steuert, welche Gene an- und welche abgeschaltet werden. Auch unter ihnen gibt es Hierarchien:Pionierfaktoren sind mächtiger als Masterregulatoren, die wiederum mehr bewirken als normale Transkriptionsfaktoren.

Das Team um Müller von der Vet-Med-Uni Wien konzentriert sich auf eine Gruppe von Pionierfaktoren, die als Jak-Stat in der Fachwelt bekannt sind. Jak steht für „Janus Kinase“, da dieses Enzym in zwei Richtungen arbeiten kann, so wie Janus in zwei Richtungen blickt. Und Stat ist kurz für „signal transducers and activators of transcription“, eine Gruppe mit sechs Mitgliedern. Die jeweilige Kombination dieser Faktoren entscheidet, welche Signale innerhalb einer Zelle übertragen werden und wie Zellen untereinander kommunizieren. Fast so vielfältig wie die Wirkungsweisen der Jak-Stat-Kombinationen im Zellgeschehen sind auch die Arbeitsgruppen in Wien, die sich damit beschäftigen. Neben drei Teilprojekten an der Vet-Med-Uni sind Teams von den Max Perutz-Labs, der Med-Uni Wien und dem Forschungszentrum für Molekulare Medizin (CeMM) der ÖAW in den Spezialforschungsbereich eingebunden.

Ideen für Krebs-Therapien

All diese Teams blicken an genetisch modifizierten Mäusen und an im Labor gewachsenen menschlichen Zellen tief ins Innere und vergleichen die Vorgänge in gesundem Zustand mit denen in Erkrankungen. „Es gibt bereits Therapien, die an die Jak-Stat-Biologie ansetzen, um Zellen, die ,durchdrehen‘, wieder ins Gleichgewicht zu bringen“, erklärt Müller. Die Wiener Forschungsgruppen schaffen nun durch ihre Grundlagenforschung immer weitere Ideen für die Medizin, um etwa Blutkrebs, Morbus Crohn oder Schuppenflechte in Zukunft gezielter behandeln zu können.

IN ZAHLEN

30 Jahre arbeiten die Wiener Forscherinnen und Forscher bereits an Chromatinlandschaften. Als in den 1990er-Jahren bestimmte Signalwege der Transkriptionsfaktoren Jak und Stat entdeckt wurden, waren Mathias Müller und Thomas Decker noch in New York und London tätig.

2016 vereinten sich die Teams in Wien (Vet-Med-Uni, Max-Perutz-Labs, Med-Uni Wien, CeMM) zu einem Spezialforschungsbereich (SFB), der vom Wissenschaftsfonds FWF nun für weitere vier Jahre finanziert wird.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.06.2021)

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