Jubiläum

Die eine Geschichte hat es nie gegeben

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Die „Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften“ feierte ihren 30. Geburtstag. Sie war hierzulande mitverantwortlich für den Wandel der Geschichtsforschung zur historischen Sozial- und Kulturwissenschaft.

Patriarchalisch geführte Institute, Professoren, die ihre „Lieblingssöhne“ als Assistenten beschäftigten, kaum Frauen in höheren Positionen und ein starker Fokus auf Politik – noch bis weit in die 1980er-Jahre waren die Geschichtswissenschaften sehr traditionell aufgestellt. Im Vergleich zu anderen Disziplinen beharrten die ihr zugehörigen Fächer lang auf alten und bisweilen fragwürdigen theoretischen und methodischen Konzepten.

„Die Geschichtswissenschaften griffen damals schon auch Bereiche wie Geschlecht, Alltagsleben oder Jugendkultur auf, waren aber nicht am sozialwissenschaftlichen Diskurs dazu beteiligt“, erinnert sich der Historiker Reinhard Sieder (Universität Wien). „Ich hatte den Eindruck, vor allem wir in Österreich hinkten progressiven Entwicklungen im Vergleich mit Frankreich, England und Deutschland weit hinterher.“ Dagegen wollte er etwas unternehmen – und gründete 1990 ein neues Fachjournal: die „Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften“ („OeZG“).

110 Bände später jährte sich ihr Bestehen im vergangenen Jahr zum dreißigsten Mal – offiziell gefeiert wurde erst vor Kurzem, ganz coronakonform, mittels virtuellen Festakts. 1500 Mitwirkende auch aus anderen Ländern und Wissenschaftskulturen und eine große Herausgeberschaft haben mit ihren Artikeln dazu beigetragen, Sieders Vision wahr werden zu lassen.

„Es war mir wichtig, die Zäune zwischen den Disziplinen abzureißen. Die Zeitgeschichte sollte mit der Wirtschaftsgeschichte, mit der Sozialgeschichte, mit der Frauen- und Geschlechtergeschichte ins Gespräch kommen“, sagt er. Das, so sein Fazit, sei „ganz gut“ gelungen: „Die Fachgrenzen sind auch in Österreich porös geworden.“

Anfangs nicht ernst genommen

Weil von den etablierten Professoren nicht unbedingt Applaus zu erwarten war, verfolgte Sieder damals die Strategie, als Gründungsgeneration der neuen Zeitschrift Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus anderen Fächern wie der Philosophie zu suchen. Und die Vertreter der alten Garde? Er lacht: „Sie haben uns eh nicht ernst genommen.“ Auch heute gebe es sie noch, die traditionellen historischen Institute. Nach und nach aber würden selbst sie von sich verändernden Sichtweisen und internationalenDiskursströmen erfasst. So sei der klassische Text im Archiv als einzige Quelle längst passé und gerade für aktuell forcierte Themen wie Geschlechter, Alltag oder Arbeit wenig brauchbar. „Das Archiv enthält meist nur Dokumente der jeweils Herrschenden“, so Sieder. „Man muss sich also neuen Quellen, etwa dem Gespräch, öffnen und ebenso andere sozialwissenschaftliche Methoden nutzen.“

Das Projekt, Geschichte neu zu schreiben, sei in den 1980ern stark von der Geschlechter- und Frauengeschichtsschreibung besetzt gewesen, ergänzt die Historikerin Gabriella Hauch (Universität Wien), seit 1995 „OeZG“-Mitherausgeberin. „Die Zeitschrift hatte daher bei der Gründung eine Schwester: ,L'Homme. Zeitschrift für Feministische Geschichtswissenschaft‘.“ Diese sei im selben Jahr gestartet. „Zwei Neugründungen mit innovativem Anspruch, das war natürlich schon etwas, was im deutschsprachigen Raum großes Aufsehen erregt hat.“ Heute sind alle „OeZG“-Ausgaben – die Artikel durchlaufen ein internationales Begutachtungsverfahren – frei zugänglich.

Web: www.journals.univie.ac.at/index.php/oezg 

("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.06.2021)

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