H.C. Artmann

Pst, der H.C. war da!

Machte den Dialekt literaturfähig: H. C. Artmann.
Machte den Dialekt literaturfähig: H. C. Artmann.Bruni Meya/akg-images/picturedesk
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Ob der Dichter jemals mit seinem berüchtigten Moped die südsteirischen Weinstraßen auf und ab fuhr und die Buschenschenken abklapperte? Wer weiß.

Manchmal hörte ich, wie meine Eltern über ihn sprachen: „Der H. C. war da, auf der Weinstraße sind sie gewesen, gestern habe ich ein fremdes Auto gesehen, zu dritt waren sie im Kaffeehaus, sein Gesicht hat ausgesehen wie ein verwitterter Stein, die Kleine hat Eis gegessen“ und so weiter.

Er brachte seltenen weltmännischen Glanz in unseren 2000-Seelen-Ort an der südsteirischen Grenze mit der riesigen Kaserne, die breit im Zentrum nahtlos neben der Kirche hockte und der man nicht entkam. In der Kaserne gab es eine Kantine, in der nicht nur die Soldaten saßen, und die Soldaten saßen natürlich nicht nur in der Kantine, sondern in allen drei oder vier Gaststätten des Dorfes.

Mit dem familiären H. C. war der Dichter H. C. Artmann gemeint, dessen Frau Rosa aus unserem Ort stammte und deren Eltern die Garnisonskantine betrieben, hin und wieder besuchte er mit seiner Familie die Gegend, was der aufmerksamen (weil etwas gelangweilten) Gemeinde natürlich nicht verborgen blieb. Ich selbst habe ihn allerdings nie zu Gesicht bekommen. Für mich blieb er ein geheimnisvolles Phantom, und ob er jemals mit seinem berüchtigten Moped die schmalen hügeligen Weinstraßen auf und ab fuhr und die Buschenschenken abklapperte und möglicherweise im verwunschenen Weingarten meiner Tante und meines Onkels landete und mit den beiden bei ein paar Krügen Wein in den unterirdischen Archiven ihrer vergangenen Zeiten schürfte und sie sich gegenseitig großartige Anekdoten (dafür war auch mein Onkel bekannt) auftischten? Wer weiß. Allerdings hätte die Familienchronik so eine Geschichte wohl überliefert, hätte es sie gegeben.

Allein die Tatsache, dass ein gefeierter Dichter aus Wien hier, an einem der Enden der kapitalistischen Welt (auf der anderen Seite dieses Endes begann die kommunistische Welt), manchmal auftauchte, war für ein Kaff auf dem Land so sensationell, dass schon die Erwähnung seines Namens bei mir einen leichten Schauer auslöste, zumal ich mich als Kind bereits nach „der Stadt“ sehnte, auf die ich all meine Sehnsüchte projizierte. Und als wäre das nicht sensationell genug, heiratete eine jüngere Schwester Rosas, Christiana, ebenfalls einen berühmten Schriftsteller, nämlich Peter Rosei (siehe Text nebenan). Aber das erfuhr ich erst, als ich schon längst in Wien wohnte. Und dann gab es noch eine dritte Schwester – wie im Märchen –, wen oder ob sie überhaupt heiratete, weiß ich nicht, aber sie war die Schwägerin zweier Dichter und die Schwester einer Dichterin – denn auch Rosa wandte sich der Schreibkunst zu – und gehörte dadurch einem magischen Zirkel an. Magda aber wurde Anästhesistin und versetzte mich als Siebenjährige vor meiner Mandeloperation im Bezirkskrankenhaus in eine Narkose, die mich für Sekundenbruchteile in ein unglaubliches Hochgefühl katapultierte – schlicht in einen Drogenrausch.

Einige Bücher von Artmann standen bei uns im Wohnzimmerschrank, „Frankenstein in Sussex“, „Med ana schwoazzn Dintn“, „Grammatik der Rosen“ oder „How much, Schatzi“, die mich schon ihrer Titel wegen anzogen und die etwas anderes versprachen als all die seltsamen Jugendbücher, mit denen ich noch zugange war, oder die Bestseller der Siebzigerjahre (Simmel, Konsalik), die sich halsbrecherisch auf dem Nachtkästchen meiner Großmutter stapelten, und die ich auch schon heimlich las, ohne irgendwelche Hintergründe zu begreifen. Was ich bei Artmann instinktiv begriff: Es ging auch ganz anders. Die Sprache bei ihm war kein Mittel zum Zweck, sie war die Hauptakteurin, nicht nur der lyrischen Texte, sondern auch seiner Prosastücke oder Mini-Szenen. Man konnte kurze Passagen lesen oder gar einzelne Sätze und sie im Kopf herumdrehen, man konnte sie sich buchstäblich auf der Zunge zergehen lassen wie Eis, aber ohne dass sie sich verbrauchten oder auflösten.
Dennoch ergaben sie als Ganzes einen geheimnisvollen Zusammenhang, den man mitnehmen konnte oder auch nicht. Sie waren dazu da, um die Sprache, die Spielereien, Verwandlungen und Versuche mit ihr zu ermöglichen, sie auf Papier zu bringen und sie auszusprechen oder aussprechen zu lassen. Die mündlich vorgetragene Literatur des Hochmittelalters war ja eine der Leidenschaften Artmanns. Seine Stücke versprachen etwas Dunkles, Gruseliges, das ähnlich deutlich zum Vorschein kam wie bei den Brüdern Grimm zum Beispiel (meiner ersten ernst zu nehmenden Lektüre), das sich mir dennoch nicht ganz erschloss, weil mir viele Kontexte noch fehlten.

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