Patentausrede Fußball

UEFA European Football Championship Euro 2020 Russia. St. Petersburg. POLAND-SLOVAKIA. PUBLICATIONxNOTxINxRUS
UEFA European Football Championship Euro 2020 Russia. St. Petersburg. POLAND-SLOVAKIA. PUBLICATIONxNOTxINxRUSimago images/Golovanov + Kivrin
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Die Kickerei gilt als Rechtfertigung für jede Verweigerung einer Handreichung, einer vertraglich zugesicherten Lieferung, einer bezahlten Leistung.

Wir nehmen dieses Spiel viel zu wichtig. Und das sage ich als jemand, der mit sechs Jahren dem Fußball in aktiver und passiver Form verfallen ist, Saisonkartenbesitzer war, Spiele von überschaubarem sportlichem Wert in Bratislava und Jablonec besucht hat und vermutlich zu den wenigen Landsleuten zählt, die das 0:2 Österreichs gegen Litauen in Marijampolė im dortigen Stadion durchlitten haben. Ich kann die Kader mehrerer österreichischer Bundesligisten aus den frühen Neunziger Jahren auswendig, und der strenge Blick von Mozer aus dem Panini-Album zur WM '86 ist mir unvergesslich (wobei wir „Motzer“ sagten, nicht lusophone Fertigkeiten vortäuschend „Moseeeerrr“).

Kurzum: Der Fußball war mein Leben, denn König Fußball regiert die ... – ja, und genau das ist das Problem. Fußball gilt als Patentausrede für jede Verweigerung einer Handreichung, einer vertraglich zugesicherten Lieferung, einer bezahlten Leistung. Eine Korrespondentenkollegin beispielsweise, die neulich angesichts von NATO- und EU-US-Gipfel bis spätabends schuftete und somit keine Zeit hatte, etwas zu kochen, bestellte beim Italiener ums Eck Pizzen für Tochter, Gatten und sich. Aus den versprochenen 20 Minuten wurden sage und schreibe eineinhalb Stunden. Entsprechend appetitlich sahen die Fladen samt erkalteter und geronnener Garnitur aus. „Was soll das?“, fragte sie den Boten. Der, mit einem Auge auf dem Handy in seiner Pranke, zuckte die Achseln und murmelte „Mais madame, le foot...“.

Also: Freuen wir uns an schönen Spielen (das beste bisher: Niederlande-Ukraine)! Und wenn wir schon seriös sein wollen: Reden wir darüber, wieso aus reiner Geldgier immer mehr zumeist sinnlose Bewerbe und Spiele den Saisonkalender füllen, und über den Nexus zwischen Schmerzmittelmissbrauch und Herzerkrankungen im Profi- und Amateurfußball (Tipp: die exzellente Doku „Hau rein die Pille“ auf YouTube). Weil: 50 bis 60 Matches pro Jahr schafft niemand, ohne die Warnsignale seines Körpers chemisch zu unterdrücken.

E-Mails an: oliver.grimm@diepresse.com

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