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Serie „Sweet Tooth“: Ein postapokalyptisches Märchen

Halb Mensch, halb Hirsch: Das gefährdete Hybrid-Kind Gus (Christian Convery) sucht seine Mama.
Halb Mensch, halb Hirsch: Das gefährdete Hybrid-Kind Gus (Christian Convery) sucht seine Mama.(c) COURTESY OF NETFLIX (COURTESY OF NETFLIX)
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Ein Virus, eine Welt am Abgrund – und ein Bub mit Hirschgeweih, der sie vielleicht retten kann: In „Sweet Tooth“ mischen sich Endzeitvision und Leichtigkeit. Auf Netflix.

Es ist eine eigentümliche Welt, in die der kleine Gus geraten ist. Die Menschen sterben an einem hoch ansteckenden Virus – und viele Frauen bringen statt normaler Babys Hybridwesen wie ihn zur Welt, die halb Mensch, halb Tier sind. Auf der Entbindungsstation sieht es aus wie bei einem der Kalender-Fotoshootings von Anne Geddes: Die Babys mit den flauschigen Federn, spitzen Ohren oder behaarten Füßen sehen entzückend aus. Aber sie sind in Gefahr. In einer zunehmend panisch agierenden Gesellschaft werden sie als Außenseiter für das Auftreten des Virus verantwortlich gemacht. Und sie werden gejagt. Man hofft, aus ihnen einen Wirkstoff gegen die Krankheit zu gewinnen. Selbst der liebenswerte Doktor Singh scheint aus Angst um das Leben seiner Frau bald vor nichts mehr zurückzuschrecken . . .

Das Szenario in „Sweet Tooth“ ist postapokalyptisch: Internet und Versorgung sind zusammengebrochen. Paramilitärische Einheiten kontrollieren den Handel mit Hybriden. Es regiert ein mörderischer Mob: Wer Symptome zeigt, wird von den Nachbarn mitsamt seinem Haus angezündet – dazu stimmen die Umstehenden ein scheinheiliges „Amazing Grace“ an. Schaurig ist das, bis die sanfte Stimme des Erzählers daran erinnert, dass es sich hier um ein Märchen handelt. Da darf man auf ein Happy End hoffen, oder? Mühelos pendelt die Atmosphäre von düsterer Bürgerkriegsvision zu humorvoller Leichtigkeit – und wieder zurück.

„Dies ist die Geschichte eines Jungen, der sich am Ende der Welt wiederfand“, hebt der Sprecher an. Er erzählt von Gus, einem liebenswerten Buben, der Hirschohren hat, die er lustig spitzen oder deprimiert hängen lassen kann. Mit den Jahren wächst ihm zwischen den blonden Locken ein Geweih. Der Vater hat sich mit ihm im Wald versteckt, und so weiß Gus (sympathisch: Christian Convery, der mit elf Jahren schon ein Dutzend Filmrollen verkörpert hat) zunächst nichts von all dem, was sich jenseits des Zauns zuträgt.

Symbolik wie bei den Brüdern Grimm

Die fantasiereiche Geschichte erinnert in manchen Szenen an Corona: Maskenzwang, überfüllte Krankenhäuser, Atemgeräte, Schuldzuweisungen, Wettlauf um einen Impfstoff. Die von Jim Mickle („Cold in July“) schon vor der Pandemie ersonnene Serie basiert auf der Comic-Vorlage von Jeff Lemire – könnte aber in ihrer Symbolik genauso von den Gebrüdern Grimm stammen: Der Wald ist hier Zufluchtsort und Gefahrenzone, denn die Jäger halten überall Ausschau nach Hybriden. Die blaue Blume – sie steht für die vergifteten Gefühle – sprießt überall, wo das Virus ist. Wer ihren Duft atmet, stirbt.

Es geht um Außenseitertum, Verlust und die Suche nach den Wurzeln. Nach dem Tod des Vaters macht sich Gus auf, seine Mutter zu suchen – und findet unerwartet Freunde: Jeppard, einen grimmigen ehemaligen Footballspieler (Nonso Anozie), und die ebenso verbitterte Bear (Stefania LaVie Owen), die mit ihrer Teenie-Gang nach Robin-Hood-Manier Hybride retten will.

Freilich gibt es in „Sweet Tooth“, wie in jedem Märchen, auch böse Charaktere. Sie sind wichtig, weil sie auf der Gegenseite für Läuterung und Zusammenhalt sorgen. Diesfalls der „General“, der die Jäger anführt und mit dem langen Ledermantel und der Nickelsonnenbrille ausschaut, als wäre er einem „Matrix“-Film entsprungen. Nur ist hier keiner so glatt gestriegelt. Ob gut oder böse – alle wirken echt und erdig. Auch das ist gelungen. Man hält Gus die Daumen – und denkt am Ende: Da gäb's noch einiges zu erzählen in einer zweiten Staffel.

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