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Refugees Not Welcome: Wie sich Brexit-Britannien abschotten will

APA/AFP/GLYN KIRK
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Ankommende Boote mit illegalen Migranten sorgen in Großbritannien zusehends für Aufregung. Das Phänomen, das erst 2018 begann, ist noch relativ klein. Die Regierung setzt aber schon frühzeitig auf Härte und Abschreckung.

Menschen, die sich an Stränden in überfüllte Schlauchboote quetschen und hoffen, dass das fragile Gefährt sie lebend ans ersehnte Ufer bringt oder man sie aus dem Meer herausfischt: Immer und immer wieder spielen sich solche Szenen auf dem Mittelmeer ab. Aber auch im Ärmelkanal, der Großbritannien und Frankreich trennt, gehören sie mittlerweile schon fast zum Alltag.

Mehr als 4000 Menschen machten sich offiziellen Zahlen zufolge bereits in den ersten fünf Monaten des heurigen Jahres von der französischen Küste aus illegal auf den Weg über den Kanal, im Juni soll mit mehr als 2000 Überquerungen laut BBC sogar ein neuer Rekord erreicht worden sein. Im Jahr zuvor kamen mehr als 8000 Menschen. Das Phänomen hatte erst 2018 überhaupt nennenswert begonnen.

An der engsten Stelle zwischen der französischen Hafenstadt Calais und Dover an der Küste der Grafschaft Kent ist der Ärmelkanal (Englisch: „English Channel"; Französisch: „La Manche") an der Straße von Dover bzw. dem Pas de Calais minimal nur etwa 33 Kilometer breit. Die Angaben differieren leicht je nach Messpunkt und Wasserstand.

Für eine so gefährliche Route mit kühlem Wasser, auf der auch immer wieder Migranten wegen der starken Strömung oder Bootsunfällen ums Leben kommen, sind die bisherigen Querungszahlen zwar viel - für ein Land wie das Vereinigte Königreich mit rund 66 Millionen Einwohnern aber noch eine überschaubare Zahl.

Doch die Bilder der vollen Flüchtlingsboote, die von den Franzosen nach britischen Angaben oft nur zögerlich bis gar nicht vorzeitig abgefangen werden, sind für die Regierung in London ein Problem. Das liegt - wie so oft - auch am Brexit. Die Kontrolle über die eigenen Grenzen zurückzugewinnen: Das war eines der Versprechen, mit dem die "Vote Leave"-Kampagne ihre Anhänger vom EU-Austritt überzeugte.

Innenministerin zeigt Härte und Grenzen

"Heute ist Immigration viel weniger ein Thema in der britischen Bevölkerung als noch vor fünf Jahren", meint Jonathan Portes, Einwanderungsexperte der Denkfabrik "UK in a Changing Europe". Trotzdem hat sich allen voran Innenministerin Priti Patel vorgenommen, das Versprechen durchzusetzen. Menschen, die unangekündigt und abseits legaler Wege an den Küsten nahe Dover auftauchen, gelten (nicht nur) in Kreisen der konservativen Tory-Partei als Zeichen politischen Kontrollverlusts.

Auch in der lokalen Bevölkerung an der Küste der Grafschaft Kent wird das übrigens nicht gern gesehen: Proteste gegen ankommende Migranten mehren sich, es gibt Einzelpersonen und Gruppen, die quasi „Küstenbeobachter" spielen und die Polizei alarmieren, wenn sie auf dem Wasser verdächtige Boote sehen. 

"Wir haben eine Innenministerin, die den Ruf hat, eine ideologische, rechtskonservative Pro-Brexit-Hardlinerin zu sein. Sie hat ihre Karriere darauf aufgebaut", erklärt Portes. Erst kürzlich ließ sich die 49-Jährige, die einer indischen Familie entstammt, bei der Festnahme von Schleppern neben Polizisten ablichten. Halb-öffentlich denkt sie gern darüber nach, Schlauchboote mit Kriegsschiffen aufzuhalten oder Asylsuchende in Zentren in Afrika auszulagern.

Klare Differenzierung geplant

"Wir schließen keine Option aus, die illegale Migration reduzieren könnte und den Druck auf unser kaputtes Asylsystem verringert", heißt es dazu auf Anfrage aus dem Innenministerium. Ein Urteil bescheinigte Patel, dass Unterkünfte für Asylwerber den Minimalstandards beim Corona-Schutz nicht entsprechen.

Britain's Home Secretary Priti Patel appears on BBC TV's The Andrew Marr Show
Britain's Home Secretary Priti Patel appears on BBC TV's The Andrew Marr Showvia REUTERS

Großbritanniens Austritt aus der EU bedeutet nicht nur, dass für EU-Bürger die Zeiten des freien Wohnens und Arbeitens im Land vorbei sind. Laut aktuellen Plänen soll für Asylwerber ein Zwei-Klassen-System gelten: So sollen Flüchtlinge und Migranten, die illegal ankamen, langfristig Nachteile und Einschränkungen gegenüber jenen haben, die auf legalem Wege kommen. Die Möglichkeiten für legale Einwanderung sind jedoch kompliziert und begrenzt - und damit oft keine Alternative.

Das Vorhaben rief sogar die UNO auf den Plan, deren Flüchtlingshochkommissariat UNHCR den Plan kritisierte. London habe die Flüchtlingsschutzkonvention 1951 maßgeblich mitvereinbart, heißt es in einer Stellungnahme. Sollten die Briten das "diskriminierende Zwei-Klassen-System" umsetzen, würde das gegen das Abkommen verstoßen und das System weltweit schwächen.

Es gibt „beliebtere" Zielländer

Großbritannien ist als Insel indes bisher kein typischer Zielort für illegale Migranten, auch nicht zwingend bei solchen, die aus früheren britischen Herrschaftsgebieten in Asien und Afrika stammen. Bürger von Ex-Kolonien können allerdings meist schon grundsätzlich etwas leichter legal nach Großbritannien reisen. Abgesehen davon gibt es offenkundige geografische Gründe: Festlandeuropa ist grundsätzlich leichter und jedenfalls früher erreichbar, speziell von Osten her. Zudem wirken besonders wohlhabende Länder mit umfangreichen Sozialsystemen wie Deutschland, Österreich und Schweden klar anziehend. Dort herrscht überdies auch gern eine gewisse (zumindest öffentlich propagierte) „Willkommenskultur".

Migrants are brought into Dover Harbour by British Border Force
Migrants are brought into Dover Harbour by British Border ForceREUTERS

Im vergangenen Jahr gingen die Zahlen in Großbritannien sogar noch einmal zurück und sanken mit rund 8600 bewilligten Asylanträgen bis Ende März um rund ein Viertel gegenüber dem Vorjahr, und insgesamt auf den niedrigsten Stand seit 2012. Dass die Fahrten über den Kanal dennoch eher zunehmen, hat damit zu tun, dass die Situation rund um den Problem-Brennpunkt Calais weiter angespannt ist. Immer wieder entstehen dort „wilde" Migrantenlager, wo Menschen unter schlimmen Umständen hausen. Die Polizei löst solche Unterkünfte regelmäßig auf, doch wachsen andere nach.

Das Grauen von Calais

Politiker aus der französischen Küstenregion warnen vor einem neuen „Dschungel" (benannt nach einem besonders berüchtigten Migrantenlager bei Calais) und beklagen fehlende Unterstützung aus Paris, aber auch aus London. 2016 war der „Dschungel" von Calais aufgelöst worden, wo Tausende teils Monate und Jahre ausgeharrt hatten.

Für die meisten dieser Menschen gibt es noch immer keine dauerhafte Lösung und sie ziehen herum, lagern anderswo - oder wagen sich eben aufs Wasser. Manche verstecken sich auch in Lkw, die per Fähre oder Tunnel nach England übersetzen.

TOPSHOT-FRANCE-EUROPE-MIGRANTS-BRITAIN-CALAIS-DEMOLITION
TOPSHOT-FRANCE-EUROPE-MIGRANTS-BRITAIN-CALAIS-DEMOLITIONAPA/AFP/FRANCOIS LO PRESTI

Erst am Dienstag wurden bei mehreren Einsätzen im Kanal laut der französischen Meerespräfektur 46 Migranten aus Booten gerettet. Der Nachrichtenagentur AFP zufolge waren elf davon komplett unterkühlt, eine Frau erlitt wiederum Verbrennungen an den Beinen.

EU wird Briten keinen Gefallen tun

Experte Portes hält die Zunahme der Überfahrten auch für einen Nebeneffekt der Pandemie. Viele Flugzeuge, Schiffe und Züge, über die ein Teil der Migranten nach Großbritannien kam, standen monatelang still. "Es ist also kein Anstieg des Flüchtlingsstroms, sondern sogar das Gegenteil", erklärt der Migrationsforscher. "Der Strom ist nur sichtbarer und die Bedingungen sind gefährlicher geworden."

Innenministerin Patel will sich damit nicht abfinden. In Verhandlungen will sie EU-Staaten überreden, Migranten zurückzunehmen - bisher erfolglos. "Das war ziemlich vorhersehbar", meint Portes. Die Regierung sei mit dem Brexit aus dem Dublin-Abkommen ausgestiegen, das ähnliche Regeln vorsieht. Für EU-Länder, die oft viel höhere Flüchtlingszahlen bewältigen müssten, gebe es daher keine Anreize, Großbritannien diesen Gefallen zu tun.

>>> Britische Drohnen-Boote zur Grenzüberwachung

(APA/DPA/red.)

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