Der Mittelpunkt des Burgenlandes liegt auf einem Basaltfelsen in St. Donatus.
100 Jahre Burgenland

Wahre Liebe ist ein "Sowohl-als-auch"

Was das eigentliche, ambivalente Wesen des jüngsten Bundeslandes ausmacht, muss man Kulturschaffende und Journalistenkollegen fragen. Sie berichten „Vom Kommen und Gehen“ im gleichnamigen Buch.

»Das Burgenland ist, indem es moderner geworden ist, auch weniger burgenländisch geworden...«

Wolfgang Weisgram
Seit jeher ein Land für Kreative: Skulpturenpark von Ulrike Truger in Buchschachen (www.ulriketruger.at/skulpturen-parktru)
Seit jeher ein Land für Kreative: Skulpturenpark von Ulrike Truger in Buchschachen (www.ulriketruger.at/skulpturen-parktru)CR Ulrike Truger

Wenn einer hundert Jahre feiert, ist es an den Gästen, vor allem Schmeichelhaftes zu sagen. Umso mehr wiegt es aber, wenn die Gratulanten dem Jubilar – dem jungen Burgenland – eine ehrliche Aufwartung machen. So geschehen im vor Kurzen erschienenen Band „Vom Kommen und Gehen“ – sprich in 26 Essays von Zu- und Weggereisten. Frei von Schmalz und Politikergrußworten: Für ihr Burgenland-Buch haben die Herausgeber, Publizist und Autor Peter Menasse sowie Wolfgang Wagner, Leiter des ORF2-Politikmagazins „Report“, Stimmen von Kulturschaffenden und Branchenkollegen versammelt. Sie ergeben in Summe ein Bild des Burgenlandes, um das es andere Bundesländer beneiden könnten. Sei's drum, dass der höchste Berg ein im Mount-Everest-Vergleich zwergenhafter Geschriebenstein ist, der Neusiedler See um seine Definition als Gewässer ringen muss und der kulinarische Beitrag zum kakanischen Gesamtvorrat deftig ausfällt.

Nein – dieses Burgenland der Essayisten von der TV-Moderatorin Barbara Karlich bis zum Designer Martin Mostböck ist ein schönes, spannendes, inspirierendes Land, ein abgeknapster Streifen eines größeren pannonischen Ganzen. Es erscheint hell, offen, gastfreundlich – jedenfalls zumeist. Keine wirklich düstere Ecke, auch nicht nach der Lektüre dieser oft sehr persönlichen Texte. Vielem, was mit dem Burgenland verbunden wird, begegnet man darin – oft in Biografisches oder in die Familienlegende verwoben, einer, wie sie etwa „Presse“-Kollege Thomas Prior mit einer Parallelgeschichte über seinen Großvater nachgeht.Von den Amerika-Auswanderern und Rückkehrern bis zur Existenz und zum Fall des Eisernen Vorhangs. Von sprachlicher Sozialisation mit kroatischem Fußball, ungarischen Speisen und auffälligen n- oder ui-Einschüben ins Idiom: Vieles unterscheidet eine burgenländische Identität, sei sie nativ oder immigriert, vom Bundesrest. Schmiermittel zum leichteren Verständnis wachsen ja landesweit auf dem Rebstock.

Der Witz der Bescheidenheit

»Auch wenn du Jahre wegbleibst, wirst du empfangen, als wäre kein Tag vergangen.«

Johanna Sebauer
Walter Schmögner und der „Club an der Grenze“. Silvester 1992 in Minihof-Liebau.
Walter Schmögner und der „Club an der Grenze“. Silvester 1992 in Minihof-Liebau. Elfi Tripamer Pichler

Ungeachtet von Weinseligkeit oder nostalgischer Betrachtung – es fehlt der scharfe Befund nicht. Den liefert Andreas Vitásek in einer knappen Passage, die klarmacht, dass eine Geschichte des Landes niemals ohne das Rohrbombenattentat auf vier Roma in Oberwart 1995 und das Massaker an 200 ungarisch-jüdischen Zwangsarbeitern in Rechnitz 1945 erzählt werden kann. Mehr Argumente liefern dem Leser die Essays von Gerhard Baumgartner über „den ersten politischen Mord der Nachkriegszeit“ oder Peter Menasse über die Abwesenheit jüdischen Lebens.
Kann ein Land an etwas schuld sein? Ist ihm seine Provinzialität zur Last zu legen? Seine einst geringe Wirtschaftskraft? Seine geografische Zerstückeltheit? Einem Burgenland zu verzeihen, braucht scheinbar die Überwindung jugendlichen Sturms und Drangs. Gleich, ob einen die Siebziger wie eine Art „Stiefkindheit“ (Birgit Braunrath) anmuteten. Oder ob es aktuell, wie Johanna Sebauer eindrucksvoll beschreibt, großer Schleifen und Distanz bedarf, um das Eigentliche zu erkennen. Dieses Motiv zieht sich durch die Beiträge: eine Burgenland-immanente Ambivalenz. Ein Darin-Aufgehen, ein Davon-Abgrenzen. Durchlässigkeiten.Ob der mittlerweile ausgestorbene Burgenländerwitz darin wurzelt? Humor ist offensichtlich vorhanden: Wie gewitzt man etwa auf dem Politparkett EU-Förderungswürdigkeit demonstrierte, erzählt Inge Maria Limbach von Brigitte Ederers (damals Europa-Staatssekretärin) und Landeshauptmann Stix' Ziel-1-Galadiner mit EG-Generalkommissar Bruce Millan: „Im renovierungsbedürftigen Schloss Nebersdorf (...) hätten Rekruten dem hohen Gast auf abgeschlagenen Tellern Tafelspitz und Semmelkren serviert. Bingo. ,This is a really poor country‘ soll Millan auf der Rückfahrt nach Wien (...) gesagt haben.“Bescheidenheit kommt immer gut an in einem Land, das bis 1921 kein eigenes war. Trotzdem nicht verkehrt, als Zuzügler sich das Wohlwollen der Locals erst einmal zu verdienen: Rosemarie Schwaiger erzählt vom Laubkehren auf der Straße vorm Haus, Wolfgang Weisgram von der langsamen Aufnahme in der Gemeinde. Das heißt nicht, dass ein Südburgenländer aus einem „Sumpfkrowodndorf“ einen größeren Startvorteil hat als ein anderer Zuagroaster, wenn er, wie Franz Renner, zum „Hauptwohnsitz-Freizeitburgenländer“ im nördlichen Landesdrittel wird.

Landesheiligtümer

Im Bild zwischen Uhudler und Ziehbrunnen zeigt sich ein pragmatisches Burgenland, rege, bauwütig: Silos übernehmen als „Kathedralen der Moderne die Lufthoheit“ (Claudia Neuhauser). Windräder schießen aus dem Boden. Man will Immo-Anteil haben am See-Paradies, das hat Folgen laut Barbara Tóth: „Auf den Retropuszta-Charme der 1970er-Jahre folgt Nullerjahre-Investorenchic.“
Selten zeigt das Burgenland seine skandalöse Seite. Dann aber markerschütternd – zuletzt bis in Herz eines Fußballfans wie Wolfgang Wagner: So leicht ließe sich das Wesenseine hinter SV Mattersburg und Commerzbank doch nicht trennen und die Wunde nicht schließen.

LESUNGEN

am 5. August: Güssing, GH zur Burg, 18 Uhr, mit Andreas Vitásek, Walter Schmögner, Ulrike Truger, Wolfgang Wagner, Peter Menasse
am 7. September. im Bildhauerhaus St. Mar- garethen, 18 Uhr, mit Inge Maria Limbach, Martin Mostböck, Barbara Karlich

("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.07.2021)

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