Geomorphologie

Die Dynamik des Hangs verstehen lernen

Digitales Oberflächenmodell eines von Massenbewegungen betroffenen Hangsystems.
Digitales Oberflächenmodell eines von Massenbewegungen betroffenen Hangsystems. GM. J. Stumvoll
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Um die Ursachen von Felsstürzen, Muren oder Hangrutschungen einordnen zu können, setzt ein Forschungsteam der Universität Wien auf ein Langzeit-Monitoring. Die Gruppe untersucht auch, ob derartige Massenbewegungen die Biodiversität möglicherweise zum Guten beeinflussen.

Die Bilder von Hangrutschungen oder von sich heranwälzenden Gesteins- und Gerölllawinen lösen die Assoziation einer Urgewalt aus, der Menschen hilflos ausgesetzt sind. Das Zusammenspiel von Faktoren, die solche Naturkatastrophen auslösen, ist jedoch hochkomplex. Natürliche Gegebenheiten wie geologische Übergangszonen treffen dabei auf punktuelle Ereignisse wie Starkregen ebenso wie auf Folgen menschlichen Eingreifens.

Eine Arbeitsgruppe des Instituts für Geographie und Regionalforschung der Universität Wien widmet sich der Untersuchung von gravitativen Massenbewegungen – also von Abwärtsbewegungen von Fels oder Lockergestein aufgrund der Schwerkraft – in Niederösterreich, derzeit etwa bei Rutschungen in den Bezirken Waidhofen an der Ybbs und Scheibbs. „NoeSlide“ nennt sich dieses Langzeit-Monitoring-Projekt, das die universitäre Forschungsgruppe „Engage“ zusammen mit dem Geologischen Dienst des Landes Niederösterreich vor sieben Jahren ins Leben gerufen hat.

Als eines der wesentlichen Resultate steht inzwischen fest, dass sich die Hang-Dynamik nicht linear zu einzelnen Variablen verhält. „Zum Beispiel verursacht die identische Niederschlagsmenge zu verschiedenen Zeitpunkten ganz unterschiedliche Reaktionen des Hangs“, sagt der Projektleiter Thomas Glade. „Daraus folgt, dass das Hangsystem extrem kompliziert ist und wir noch weit davon entfernt sind, zu verstehen, wie dieses – so einfach erscheinende – Geosystem funktioniert und was dieses System steuert und auslöst.“

Falsche Rückschlüsse bei „Schuldfrage“

Zudem habe sich gezeigt, dass sich bei bewirtschafteten Hangsystemen die Folgen von anthropogener, sprich, vom Menschen verursachter Überprägung, und klimatischer Änderungen oft erst nach vielen Jahren bemerkbar machten. Glade: „Die natürlichen Systeme reagieren verzögert. Der Einfluss der Änderungen kann häufig nur mehr schwer in Bezug zu aktuellem Prozessgeschehen gesetzt werden, etwa Drainagierung, Landnutzungsänderung oder Aufforstung.“ Durch ein besseres Verständnis der Hangdynamiken könnten auch validere Aussagen darüber getroffen werden, ob Rutschungen, Vermurungen und andere Massenbewegungen dem Klimawandel geschuldet seien oder doch anderen Prozessen. „Hier werden – nach meinem Zugang – sehr häufig falsche Bezüge hergestellt“, sagt der Risikoforscher.

Nicht minder wichtig als der Bezug zum Klimawandel sei zudem die Frage, wie stark Hangdynamiken die Biodiversität beeinflussten. Thomas Glade wagt die Vermutung, dass in manchen Gebieten die Biodiversität durch Hangbewegungen steigen könnte. „Weil die Bereiche der Hangbewegungen aus der intensiven Nutzung genommen werden und sich selbst überlassen werden, solange sie keine Gefahr für Leib und Gut darstellen.“ So könnten sich in den „freigegebenen“ Regionen wieder neue Refugien für Flora und Fauna bilden. Ein Beispiel dafür sei etwa der Mössinger Bergsturz an der Schwäbischen Alb, der inzwischen ein Naturschutzgebiet darstelle.

Neben den Analyseergebnissen selbst entsteht ein Mehrwert des Projekts auch im technischen Fortschritt bei den Messungen gravitativer Massenbewegungen. Neue Methoden wie zum Beispiel kontinuierliches terrestrisches Laserscanning bieten den Vorteil, mehr Parameter mit einer höheren Auflösung und mit größerer Genauigkeit zu messen. Vor allem aber könnten dadurch viele Parameter zeitgleich gemessen werden, so Glade.

Ein weiteres Projektziel ist die Schaffung einer webbasierten Plattform, um die eingegangenen Daten benutzerorientiert zu visualisieren. „Die direkt betroffenen oder potenziell betroffenen Anwohner benötigen andere Information als die Entscheidungsträger von Einsatzorganisationen aus dem Katastrophenschutz oder den Planungsbehörden“, erklärt der Projektleiter. Derartige Möglichkeiten dürften auch für einige neue Partner des Projekts attraktiv sein, zu denen neben der Geologischen Bundesanstalt auch die Wildbach- und Lawinenverbauung des Landes Niederösterreich zählt. Forschungskooperationen wurden mit der Universität Heidelberg und der Technischen Universität Wien eingegangen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.07.2021)

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