Venedig, 1959. Luigi Nono im Arbeitszimmer.
Salzburger Festspiele

Die Stimme erheben

Mit „Intolleranza 1960“ zeigen die Salzburger Festspiele erneut, wie bestürzend zeitgemäß und zugleich musikalisch zeitlos modern Luigi Nonos Schaffen geblieben ist.

Es ist die Geschichte eines armen Teufels, der Leidensweg eines neuen Wozzeck. Elemente von Einst und Jetzt, in den 1960ern besonders des Algerienkriegs, vermischen sich zur Tragödie des Individuums in einem aussichtslosen Kampf nach Befreiung. Wie in einem Stationendrama findet sich der Protagonist von Luigi Nonos „Intolleranza 1960“, nur „Un emigrante“ genannt, in sozialen Zwangslagen von Unterdrückung, Vorurteil und Unversöhnlichkeit verschiedlichster Art wieder: psychologisch, physisch, politisch und so weiter. Typen sind gemeint und keine konkreten Personen; die lineare Schilderung des Schicksals bestimmter, fiktiver Menschen ist aufgehoben, geht auf in einer anonymen, dafür aber allgemein gültigen Realität, deren Kreuzwegstationen nicht für alle und jeden gelten mögen und auch anders aufeinanderfolgen könnten, in Summe aber die Mühen des Einzelnen auf moderne, gebrochene und gerade dadurch desto eindringlichere Weise nacherzählen.

Lyrische wie dokumentarische Texte greifen im Libretto ineinander, vor allem aber verbindet die collageartigen Teile dieses fern der Operntradition im Untertitel als „Azione scenica“, also „szenische Aktion“ bezeichneten Werks eine „fast oratorische Musik“, wie Ulrich Dibelius einst festgestellt hat, „denn immer wieder unterbrechen Chöre von seltsamer Reinheit des A-cappella-Klangs . . . das demonstrierende Geschehen auf der Bühne. Im Orchester herrscht der für Nono typische dissonanzgeschärfte Trompetenklang vor, um zu appellieren, zu protestieren, die Utopie einer besseren Welt wachzurufen“.

Mit vereinten tänzerischen Kräften: Needcompany, BODHI PROJECT und SEAD.
Mit vereinten tänzerischen Kräften: Needcompany, BODHI PROJECT und SEAD.

Humanismus, Nächstenliebe, Gerechtigkeit

Mit „Intolleranza 1960“, diesem seinem ersten Musiktheaterwerk, zog Luigi Nono die vorläufige Summe aus seinem Schaffen. „Il canto sospeso“ für Chor und Orchester (1955/56), basierend auf Abschiedsbriefen hingerichteter Widerstandskämpfer und zuletzt 2019 bei den Salzburger Festspielen zu erleben, wird etwa darin zitiert. Für Markus Hinterhäuser ist es „ein Werk des Humanismus, der Nächstenliebe, der Gerechtigkeit. Luigi Nono spricht darin von der Gewissheit, dass ‚der Mensch dem Menschen ein Helfer‘ sein muss. Eine solche Reflexion ist vermutlich nie wichtiger gewesen als heute.“ Allein das Themenbündel aus Migration, Polizeigewalt und Klimawandel gibt ihm bei der Aktualität recht – wäre da nicht auch und vor allem Nonos Musik, diese kühnen, ungeschönten und zugleich auratischen, verletzlichen Klänge, die selbst für die gute Sache nicht einfach „benutzbar“ sind, sondern mit indirekter Kraft eintreten gegen die Unterdrückung und für die Würde des Menschen.

»„,Intolleranza 1960‘ ist ein Werk des Humanismus, der Nächstenliebe, der Gerechtigkeit.“«

Markus Hinterhäuser

Die Neofaschisten zürnen

„Abends Premiere. Die Faschisten machen organisierten Skandal – einige werden von der Polizei verhaftet, als sie in ihren Logen grad riefen: ‚Viva la polizia!‘ Sie pfiffen von Anfang an, schmissen auch Stinkbomben. Keiner von uns, die wir das Stück inzwischen doch gut kennen, kapiert, wie man darin eine primitive Verherrlichung des Kommunismus sehen kann“: So erinnert sich die Mezzosopranistin Carla Henius, eine bedeutende Interpretin der Neuen Musik, an die Uraufführung von „Intolleranza 1960“ am 13.  April 1961 im Teatro La Fenice unter Bruno Maderna in Venedig. Der Skandal entzündete sich freilich nicht an der Musik wie seinerzeit etwa das berühmte „Watschenkonzert“ 1913 im Musikverein, das Arnold Schönberg dirigiert hatte, übrigens posthum sowohl Nonos Schwiegervater als auch Widmungsträger von „Intolleranza 1960“, sondern am politischen Bekenntnis des Komponisten. Die Störenfriede konnten nicht ahnen, dass sie mit ihrem Protest einen Satz des Librettos nur allzu genau bestätigten: „In keiner Epoche war die Unterdrückung rasender und besser bewaffnet.“

Ausdrucksmittel Stimme

Ingo Metzmacher, der Nono noch gekannt hat und für den sein „Werk und sein Vermächtnis [. . .] so etwas wie ein Leitstern“ sind, ist seit fast dreißig Jahren einer der zentralen Dirigenten in der wiederkehrenden Auseinandersetzung mit Nonos Schaffen in Salzburg, die Markus Hinterhäuser schon zu „Zeitfluss“-Zeiten etabliert und dann als Konzertchef wie als Intendant mit besonderer Hingabe weitergeführt hat: Nonos viel zitierter Appell „Das Ohr aufwecken, die Augen, das menschliche Denken“ ist und bleibt maßgeblich für sein Festspielkonzept. 1993 und 2011 hat Metzmacher hier mit Aufführungen des monumentalen „Prometeo“ Festspielhistorie geschrieben, dieser Spielart eines „Großen Welt-Hörtheaters“ aus Nonos letzter Schaffensphase, in dem die politische Botschaft wie in einem auratischen Rätsel aufgehoben scheint; 2009 stand unter Metzmacher „Al gran sole carico d’amore“ auf dem Programm, nach „Intolleranza 1960“ jenes zweite wichtige Opernscheidewerk Nonos vor dem Rückzug ins Spätwerk, in dem er durch die Intensität seines Hörens rettende Inseln der Stille provozieren konnte. Davor jedoch erhob er seine Stimme gegen die Ungerechtigkeit.

Das Wort „Stimme“ fällt hier freilich nicht zufällig: Der „Gesang an sich“ spiele eine große Rolle in Nonos Werk, betont auch Metzmacher: „Das Singen ist ihm als Italiener irgendwie der natürlichste Zugang zur Musik gewesen . . .  Menschen haben ihn immer besonders interessiert, nicht einzelne Personen, sondern Menschen, die zusammen etwas ausdrücken, gemeinsam etwas empfinden. Und Chorgesang ist sowohl für die Ausführenden als auch für die, die hören, immer etwas sehr Bewegendes.“ Der Wiener Staatsopernchor und die Wiener Philharmoniker werden mit Metzmacher am Pult nicht vergessen lassen, dass Nono auch Verdi geliebt hat.

Zentraler Dirigent der Salzburger Nono-Pflege: Ingo Metzmacher.
Zentraler Dirigent der Salzburger Nono-Pflege: Ingo Metzmacher.(c) Harald Hoffmann

Als Sohn eines venezianischen Ingenieurs aus alter Patrizierfamilie genoss Luigi Nono eine großbürgerliche Erziehung, die auf Wunsch des Vaters in ein 1946 abgeschlossenes Jusstudium mündete. Die Musik war dennoch ständig präsent, trotz des früher ungeliebten Klavierunterrichts: Francesco Malipiero am Konservatorium und später privat Bruno Maderna waren seine Kompositionslehrer. Damals kam Nono mit der Musik der Renaissance und des Frühbarock in Berührung, mit der venezianischen Mehrchörigkeit, deren Surroundeffekte er später als Komponist neu entdecken sollte.

Isolation der Avantgarde

Doch vorerst war es 1948 die Begegnung mit Hermann Scherchen, die Nono die entscheidenden Impulse gab. Der bedeutende deutsche Dirigent, Verfechter der Moderne und Kommunist, hatte das faschistische Deutschland 1933 verlassen und wurde für Nono musikalisch wie politisch zu einer prägenden Figur. Mit Scherchen analysierte er Musik der Zweiten Wiener Schule, vor allem von Schönberg und Webern. Ingo Metzmacher bestätigt beide Einflüsse, die Alte wie die Neue Musik, aber: „Am meisten fallen die Klangmassen, Klangballungen auf. Es gibt keine Einzelstimmen, es gibt den Klang aller zusammen    – der sich verschiebt, der ganz leise sein kann, der gewaltig laut sein kann. Ganz still kann die Musik manchmal sein, dann schreit sie wieder. Es ist eine Musik der Extreme, die, wenn sie gut gemacht ist, unmittelbar packt.“ Scherchen bestärkte Nono auch in seinen politischen Ansichten.

»„Nono war ein Aktivist, das stimmt schon. Aber er war
in erster Linie Künstler.“«

Jan Lauwers

1952 wurde Nono Mitglied der Kommunistischen Partei Italiens, 1955 heiratete er Schönbergs Tochter Nuria. Schon zuvor hatte Scherchen den Italiener zu den Darmstädter Ferienkursen gebracht und dort seine „Variazioni canoniche“ uraufgeführt, doch die serielle Doktrin der Avantgarde fand Nono sehr bald fragwürdig: Er litt daran, dass in der Parallelwelt Kunst munter der traditionelle Begriff von Musik radikal aufgelöst wurde, während die reale, so ungemein verbesserungsbedürftige Welt davon jedoch völlig unberührt blieb und keine der künstlerischen Kühnheiten jemals gesellschaftliche Relevanz gewinnen konnte. Sich mit dem Banalen gemeinzumachen, und sei es mit den besten Absichten, kam für Nono dennoch nicht infrage.

Balance von Form und Inhalt

Diese Scheidelinie ist auch für den belgischen Theatermacher Jan Lauwers wichtig, der als Maler, Fotograf, Autor, Zeichner, bildender Künstler, Filmemacher, Choreograf und Regisseur auf ganz eigentümliche Weise sämtliche Sparten zu einer Art von Gesamtkunstwerk verbindet – in eigenen Stücken, die sich narrativen Strukturen oft verweigert haben. Das trifft sich mit Nonos Konzept von „Intolleranza 1960“, nach Monteverdis „Poppea“ das zweite Werk der Opernhistorie, das Lauwers in Salzburg mit Solisten seiner Needcompany und den Tanzcompagnien von Bodhi Project und Sead auf die Festspielbühne bringt. „Kunst ist immer politisch, Kunst ist immer rückgebunden in eine Gesellschaft“, sagt er.

Griff zur Gitarre in einem stillen Moment: Theatermacher Jan Lauwers.
Griff zur Gitarre in einem stillen Moment: Theatermacher Jan Lauwers.(c) Bea Borgers

„Und doch gibt es eine klare Grenze: Wenn Kunst nur ein aktivistischer politischer Akt wird, macht das die Kunst ärmer. Da müssen wir vorsichtig sein. Wenn ich in meinem Atelier arbeite, darf der Aktivist in mir nicht herein. Die Meisterschaft großer Kunst liegt darin, was man aus dem politischen, dem gesellschaftlichen Kontext macht. Nono hat aus einer Oper eine Erfahrung gemacht. Diese Meisterschaft war für mich ausschlaggebend, ‚Intolleranza‘ inszenieren zu wollen. Es ist ein unglaublich starkes, wunderbar komponiertes Stück. Nono war ein Aktivist, das stimmt schon. Aber er war in erster Linie Künstler. Form und Inhalt finden also eine wunderbare Balance. Genau in dieser Balance entsteht herausragende Kunst.“

Mehr Informationen unter: www.salzburgerfestspiele.at

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