Ungarn: Das giftige Erbe der KP-Industrie

Katastrophe. In vielen Ländern Osteuropas lauern industrielle Umweltzeitbomben. Allein in Ungarn gelten 21 Standorte als ähnlich gefährlich wie Ajka.

[BUDAPEST/WIEN] Inmitten der Giftschlammkatastrophe von Westungarn(siehe auch Seite 9) gibt es eine gute Nachricht: Von der klebrigen, mit Schwermetallen versetzten Flüssigkeit, die am Donnerstag die Donau erreicht hat, geht keine radioaktive Gefahr aus. Aber schon die zweite Erkenntnis der Ungarischen Akademie der Wissenschaften (MTA), die in der roten Verwüstung geforscht hat, strotzt vor Realitätssinn: Es sei „erschreckend“, sagte Attila Aszódi, Direktor des MTA-Instituts für Nuklearforschung, dass sich „hinter schlichten Dämmen aus Industrieabfall hunderttausende Kubikmeter stark basische Flüssigkeiten 50 bis 60 Meter über den Köpfen von Menschen auftürmen“. Aszódi zog die Parallele zu Atomkraftwerken: Seit der Katastrophe von Tschernobyl seien die Sicherheitsmaßnahmen vervielfacht worden. Sollten Ungarn und Europa aus „Kolontár“ nicht lernen, würden ähnliche Katastrophen in Zukunft nicht zu verhindern sein.

Ungarns „Deepwater Horizon“

Die Schlammkatastrophe wurde nicht nur von Aszódi in einem Atemzug mit Tschernobyl genannt. Die Nachrichtenagentur MTI verglich „Kolontár“ auch mit der Bohrplattform „Deepwater Horizon“: In Westungarn hätten eine Mio. Kubikmeter die Landschaft überflutet, „das übertrifft die Menge des in den Golf von Mexiko geströmten Öls“.

Näher lag da der Dammbruch in Westrumänien, bei dem im Jänner 2000 etwa 100.000 Kubikmeter zyanidverseuchtes Abwasser aus einem Auffangbecken in die Flüsse der Umgebung gelangte. Mit katastrophalen Auswirkungen auf Flora und Fauna der Theiß. Seither kämpfen nicht nur Umweltschützer gegen die Goldgewinnung mithilfe von Zyanid. Viele umweltgefährliche Technologien und ihre Folgen, ungesicherte Depots und Auffangbecken, sind Ergebnis der staatssozialistischen Industrialisierung in vielen Ländern Osteuropas. In der Aluminiumfabrik von Ajka – deren Becken leck geworden ist – wurde Bauxit verwendet, das in der KP-Ära, zu Tonerde verarbeitet, in die Sowjetunion transportiert und als Aluminium wieder importiert wurde. Die Umweltlasten trug und trägt Ungarn. Da haben es die Menschen rund um Almásfüzitö an der Donau etwas besser: Die Auffangbecken der dortigen ehemaligen Tonerdefabrik sind jünger als jenes bei Ajka. Dennoch hat sich die Umwelt-, Naturschutz- und Wasseraufsicht des Staates nach der Katastrophe aufgerafft, außertourliche Überprüfungen vorzunehmen. Bis zu deren Abschluss hat Direktor István Csepregi im Werk Ajka „jede Bewegung“ verboten. In Ungarn sind 22 Orte als umweltgefährdend definiert, darunter auch mehrere ehemalige sowjetische Flughäfen. Ajka rangiert auf dieser Liste auf Platz zwölf.


Leckes Becken in Rumänien
Noch gefährlicher ist die Lage bei einem seit Jahren leicht lecken Auffangbecken im Donaudelta. Es gehört zu einem Tonerdewerk im westrumänischen Oradea, das nach der Wende zugesperrt worden ist. 2000 an den russischen Investor Russkij Alumini verkauft, ging es 2006 pleite. Seither modern Fabrik und drei Auffangbecken vor sich hin.

Der Zorn vieler Menschen richtet sich gegen die Leitung des Unternehmens MAL (Magyar Alumínium Zrt.), den Eigentümer des lecken Lagerbeckens in Ungarn. Grund für die Wut sind zum einen Aussagen der MAL-Leitung, wonach der Giftschlamm gar nicht so giftig und schädlich sei. Zum anderen wird die Knausrigkeit der Aluminiumfabrik kritisiert. MAL hat allen Leidtragenden der Schlammkatastrophe eine Soforthilfe von 370 Euro versprochen. In den Augen vieler Opfer ist das zu wenig. Zumal bekannt ist, dass die Mitglieder der MAL-Chefetage zu den hundert reichsten Personen des Landes gehören. Laut Informationen der Wirtschaftszeitung „Napi Gazdaság” liegt das Vermögen von Lajos Tolnay, der 40 Prozent der Anteile an MAL hält, bei 23 Mrd. Forint. Jeweils 30 Prozent an MAL sind im Besitz der Familie Bakonyi und von Béla Petrusz, die laut „Napi Gazdaság” Vermögen in Höhe von je 16,5 Mrd. Forint (59 Mio. Euro) haben.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 08.10.2010)

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