Filmfestival

In Cannes bleibt einem heuer die Spucke weg

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Nach einem Jahr in der Coronaversenkung kehrt die Grand Dame der Euro-Filmevents zurück an die Côte d'Azur. Jurymitglied Jessica Hausner erwartet ein satter Wettbewerb. Leos Carax' Eröffnungsmusical „Annette“ überraschte.

Ist wirklich wieder Cannes? Steht man an der Croisette vor dem Palais des Festivals, kann man es kaum glauben. Doch der Schein trügt nicht: Das größte Filmevent Europas findet heuer nach einjähriger Pandemiepause tatsächlich statt – fast (wenn auch nur fast) so, als wäre nichts gewesen. Altbekanntes beäugt man nun mit süßer Wehmut: kriechende Menschenschlangen, MG-bewehrte Polizisten, hektisch umherirrende Journalisten mit flatternden Festivalpässen. Hat man das wirklich vermisst? Die Côte d'Azur schimmert und sagt: Ja.

Ja sagt auch das Festival selbst: zu prall gefüllten Kinosälen, zum roten Teppich, zu Galapremieren mit großem Staraufgebot, notdürftig abstandsgeregelten Menschenmengen und halbherzig eingehaltener Maskenpflicht. Sicherheitsvorkehrungen? Sicher. Aber „la boum du cinéma“ lassen sich die Franzosen nicht von irgendeiner dahergelaufenen Delta-Variante vermiesen. Zumal die Fete 2021 schon verschoben wurde – vom gewohnten Mai in den Juli. Und der hat es in sich! Oft hört man in Cannes Klagen über sporadisches Schlechtwetter. Jetzt merken viele den Vorzug des Frühlingstermins: Die Sonne knallt, die Schwüle drückt. Bei Flucht ins Kino stolpert man vom Feuer in die Traufe: Hier surren die Klimaanlagen auf Hochtouren, sodass man unwillkürlich zum Pullover greift. Und sich dabei versehentlich die Maske von der Nase zieht.

Ein französisches „La La Land“?

Offiziell muss diese auf dem ganzen Festivalgelände und während aller Filmvorführungen getragen werden, was bei den ausgedehnten Sitzfleischmarathons an die Nieren gehen kann. Nicht alle Stars hielten sich während der Eröffnung im Grand Théâtre Lumière an die Regelung, die Aufpasser drückten ein Auge zu. Wie soll der Glamour sonst in die Fernsehkameras? Eben.

Ob Jodie Foster (die für ihr Lebenswerk geehrt wurde) oder Jurypräsident Spike Lee wohl ein gültiges Testzertifikat vorweisen könnten? Egal: In die meisten Kinos kommt man hier auch ohne Impfung oder Covid-Test. Aber nicht ins Festivalzentrum. Weshalb Testen für viele Gäste an der Tagesordnung steht. Angeboten wird die PCR-Speichelversion: Da blieb einem schon vor dem Eröffnungsfilm die Spucke weg.

Und danach sowieso: Denn was der französische Kultregisseur Leos Carax („Holy Motors“) am Dienstagabend in seinem jüngsten Kuriosum „Annette“ auftischte, war keinesfalls die erbauliche, bekömmliche Kost, die sich einige für die Wiedereröffnung erhofft hatten. Obwohl der Film auf dem Papier so klang: Ein Musical! Mit Adam Driver! Und Marion Cotillard! Hurra, Cannes kriegt sein eigenes „La La Land“! Ganz daneben war die Einschätzung nicht: Auch in „Annette“ geht es um Liebe und Entfremdung eines Künstlerpaars. Doch an diesem zweieinhalbstündigen Wunderding ist alles – passend zur Kunstkinomarke Cannes – düsterer, exzentrischer, überfordernder als im populären Hollywood-Singspiel.

Driver gibt mit vollem Körper- und Stimmeinsatz (ersteres eindrucksvoll, letzteres weniger) einen Extremkabarettisten mit Rockstar-Aura, Cotillard eine Operndiva. Beide stehen im Zenit des Erfolgs, beide lieben sich sehr. Das weiß man, weil sie es singen, immer und immer wieder, beim Sex und beim Spazierengehen: „We love each other so much“. Den Soundtrack stellt die Avantgardepopband Sparks. Wer sie kennt, wird sich nicht über den Hang zur textlichen Wiederholungsschleife wundern – viele andere schon. Bald bekommt das Paar ein Kind, das titelgebende Mädchen Annette. Dass es aussieht wie eine Holzpuppe, sollte nicht Wunder nehmen: Carax spielt nach seinen eigenen ästhetischen Regeln, kreuzt Fantasy, Stummfilmeffekte, Stockfotografie und Billiganimation, setzt zugleich auf gezielte Verfremdung und große Gefühle.

Eine finstere Wendung auf stürmischer See verleiht dem Geschehen shakespearesche Schwere. Und startet den Canossagang einer gequälten (männlichen) Künstlerseele: Die bitteren letzten Szenen wirken wie eine zerknirschte Entschuldigung für toxische Selbstsucht, die wohl nicht jede(r) annehmen wird, zumal der Fokus des Films auf Drivers tragischem Clown liegt: Cotillards Figur bleibt randständig, die Rollenbilder altbewährt. Dennoch berührt die fast schon naive Direktheit, mit der sich Carax hier selbst kasteit – „Annette“ ist seiner Tochter Nastya gewidmet. Zum Schluss sieht Driver ihm mit Schnauzbart täuschend ähnlich.

Die großen Männernamen sind wieder da

Vielleicht will Cannes-Intendant Thierry Frémaux mit diesem Auftakt auch Kritik an seinem Festival begegnen: Dank Covid-Filmstau finden sich heuer satte 24 Titel im (weitgehend nach vertrauten Mustern gestrickten) Wettbewerb. Nur vier davon stammen von Frauen. Venedig konnte 2020 fast die Hälfte seiner Hauptsektion weiblich besetzen – offenbar nur eine Möglichkeit, wenn sich die großen Namen (zu denen in Cannes etwa Nanni Moretti, Wes Anderson und Paul Verhoeven gehören) absentieren. Dafür bestimmen Frauen die heurige Cannes-Jury: Auch die heimische Regisseurin Jessica Hausner entscheidet mit.

Highlights der Filmfestspiele

Wettbewerb. 24 Filme konkurrieren um die Goldene Palme. Darunter sind Wes Andersons starbesetzter Film „The French Dispatch“, Sean Penns Vater-Tochter-Drama „Flag Day“, François Ozons Sterbehilfe-Drama „Everything Went Fine“ oder Paul Verhoevens Nonnenspektakel „Benedetta“ neben Filmen von Mia Hansen-Løve, Jacques Audiard, Nanni Moretti, dem doppelten Oscar-Gewinner Asghar Farhadi und Kirill Serebrennikow.

Österreich ist heuer nur in der Nebensektion „Un Certain Regard“ vertreten: Am Donnerstag hat dort Sebastian Meises „Große Freiheit“ mit Franz Rogowski und Georg Friedrich Premiere, am Montag das Drama „Moneyboys“ von C. B. Yi.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 08.07.2021)

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