Der Mord, der Präsident und seine vielen Feinde

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Der Anschlag auf Staatschef Jovenel Moïse verschärft die Dauerkrise im Armenhaus Lateinamerikas.

Die letzte Amtshandlung des Präsidenten war die Ernennung des Neurochirurgen Ariel Henry zum Regierungschef – zum siebten in weniger als fünf Jahren. Der frühere Innenminister sollte die Parlaments- und Präsidentenwahlen in Haiti am 26. September sowie die Durchführung eines Referendums für eine Verfassungsreform abwickeln, wie Staatschef Jovenel Moïse via Twitter ankündigte.

Eine Nacht später war der 53-jährige Präsident tot, zu mitternächtlicher Stunde am Mittwoch von Häschern in seiner Residenz in Port-au-Prince erschossen. Seine Frau kam mit Verletzungen und einem schweren Schock davon. Moïse konnte in der Hauptstadt nicht mehr vor die Tür gehen. Er hatte sich im Palast eingebunkert – und zuletzt war er nicht einmal dort noch sicher. Vor den Toren seines Amtssitzes hatten längst rivalisierende Banden die Macht in dem von einem Erdbeben devastierten Inselstaat übernommen, bei dem vor elf Jahren 220.000 Menschen ums Leben gekommen waren.

„Papa Doc“ und „Baby Doc“

Die Not auf Haiti, das sich die Karibik-Insel Hispaniola mit der Dominikanischen Republik teilt, ist evident und die Korruption endemisch. Die von Diktatoren wie den Duvaliers („Papa Doc“ und „Baby Doc“) und der von ihnen kontrollierten Schlägertruppe der „Tontons Macoutes“ jahrzehntelang ausgepresste Inselhälfte gilt als Armenhaus Lateinamerikas, gemeinhin als ärmster Staat der westlichen Hemisphäre. Nach der Erdbebenkatastrophe hängt Haiti erst recht am Tropf der internationalen Gemeinschaft.

Seit der Unabhängigkeit von Frankreich 1804 fanden die ersten freien Wahlen erst 1990 statt. In der Abfolge von Wahl, Exil und Wiederkehr des zum Präsidenten gewählten Armenpriesters Aristide geriet das Land indessen in neue Turbulenzen. Im neuen Jahrtausend versank Haiti immer tiefer im politischen Sumpf. Mehr als drei Millionen Haitianer emigrierten vor allem in die USA.

Der „Bananenmann"

Im Wahlkampf 2016, als er als selbstdeklarierter „Bananenmann“ auf Tour ging, versprach der Geschäftsmann Jovenel Moïse Linderung der politischen wie ökonomischen Dauerkrise. Desillusioniert gingen nur 18 Prozent der Wahlberechtigten zu den Urnen, um in einer angefochtenen Stichwahl den Agrarunternehmer zum Staatschef zu küren.

In der Frage des Datums seines Amtsantritts wurzelte der Konflikt zwischen Moïse und der Opposition, die ihm diktatorische Allüren und Korruption vorwarf und Streiks, Proteste und Unruhen gegen ihn mobilisierte. Moïse behauptet, er habe seine fünfjährige Präsidentschaft im Februar 2017 angetreten. Seine Gegner hielten am Februar 2016 fest.

Regieren per Dekret

2020 löste der Präsident erst das Parlament auf und danach den Obersten Gerichtshof. Seither regierte Moïse per Dekret. Als die Opposition einen Höchstrichter als Interimspräsidenten nominierte, sah sich der Präsident als Opfer eines Komplotts. Am Ende hatte er sich zu viele Feinde gemacht. Einzig die USA hielten ihm die Treue, weil Moïse Washington im Kampf gegen Venezuelas Despoten Maduro unterstützte.
Ariel Henry trat sein Amt als Premier nicht mehr an. Stattdessen hält Vorgänger Claude Joseph die Stellung, um Chaos und Bandenkämpfe zu verhindern.

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