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Von Hühnern, Hähnen und einer stillen Emanzipation

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Schlicht, einfühlsam: der Film „Die Frau, die rannte“ von Hong Sang-soo.

Im ersten Bild sieht man Hühner, die Körner picken. In den folgenden 77 Minuten nähert sich der südkoreanische Workaholic (zwei oder drei Filme pro Jahr) Hong Sang-soo dem Seinszustand dieser Nutztiere an. Allerdings werden sie von einem Alpha-Hahn heimgesucht, der ihnen mit dem Schnabel in den Nacken hackt. Der Frieden trügt. Sang-soo begleitet die seit fünf Jahren verheiratete Gamhee (Kim Min-hee) während dreier Treffen mit alten Freundinnen. Ist der Filmemacher sonst eher an verspielten Wiederholungen interessiert, legt er hier sein bis dato reduziertestes Werk vor. Es sind banale, bittersüße Begegnungen, in denen mögliche Handlungen aufblitzen. Es dominiert, was unausgesprochen bleibt und sich in einer sanft-wehmütigen Grundstimmung in den Bildern hält.

Alle Frauen werden von unangenehmen Männern besucht. Sang-soo zeigt sie nur von hinten, erzählt zwischenmenschliche Strukturen statt individuelle Dramen. Hauptsächlich ist „Die Frau, die rannte“ aber ein Film über Freundschaft zwischen Frauen und ein schönes Dokument jener Treffen, die im letzten Jahr so sehr gefehlt haben. Dabei zeigt sich auch, wie viel Arbeit im Vertrauen steckt.

Oft spürt man eine Distanz, die sich erst legen muss. Die anekdotenhaften Gespräche, hauptsächlich übers Essen, fügen sich zu einem existenziellen Gefüge, das tiefere Fragen zulässt. Zur titelgebenden Flucht kommt es nicht, aber sie erscheint notwendig. Dass nicht nur die Zuschauer dies erfühlen, sondern auch die Protagonistin, liegt vermutlich daran, dass ihr auf ihrer Reise kein Alpha-Hahn im Nacken sitzt.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.07.2021)

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