Stuttgart 21: Auge um Auge, Ast um Ast

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Stuttgart Auge Auge(c) EPA (BERND WEISSBROD)
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Das Milliardenprojekt Stuttgart 21 droht an ein paar gefällten Platanen zu scheitern. Gegen den seltsamen Kult um Bruder Baum ist offenbar kein Kraut gewachsen.

Alle Hoffnung ruht jetzt auf den Juchtenkäfern. Die kleinen Krabbler hatten bisher wenig Publicity, aber im Konflikt um den Stuttgarter Bahnhof schlägt ihre Stunde. Wie Naturschützer herausfanden, lebt eine größere Population in den Bäumen des Schlossparks. Eine Rodung des Geländes würde die Käfer samt Familien delogieren – und da sie ohnehin selten sind, geht das gar nicht. Baden-Württembergs Ministerpräsident Stefan Mappus hat nun angekündigt, dass bis Sommer 2011 kein Baum im Schlossgarten mehr gefällt werde. Wegen der Käfer und überhaupt.

Stuttgart 21 ist das derzeit größte Infrastrukturprojekt des gesamten EU-Raumes. Vier bis fünf Milliarden Euro sollen für den neuen Bahnhof verbaut werden. Die Gegner des Projekts wettern seit Monaten gegen die Kosten, den Baulärm, die Gigantomanie. Aber gewalttätig wurde die Auseinandersetzung erst in der Nacht auf den ersten Oktober, als die Holzfäller anrückten. Die Bilanz am nächsten Morgen: 22gefällte Bäume, 120verletzte Menschen und die Erkenntnis, dass die Liebe des Großstädters zur verholzten Grünpflanze kein Maß kennt.

Brutal und archaisch. Kaum stehen irgendwo ein paar Birken oder Platanen zur Rettung an, formieren sich die Massen. Wenig vermag den Bürger ähnlich zu erzürnen wie die geplante Abholzung einer windschiefen Parkallee. Manches Großprojekt musste schon abgesagt werden, weil die Anrainer nicht und nicht von ihren Kastanien, Trauerweiden, Rotbuchen lassen wollten – und zwar auch dann nicht, wenn ihnen Ersatz zugesagt wurde.

Nun ist das Umsägen eines Baumes zweifellos ein brutaler, archaischer Akt, der gewachsenes Leben für immer zerstört. Doch nüchtern betrachtet tötet auch, wer einen Kopfsalat erntet – und das regt nur selten jemanden auf. Den Unterschied macht, so banal das klingen mag, hauptsächlich das Marketing. „Bruder Baum“ gehört zu den genialsten „brand names“ aller Zeiten – einfach, herzergreifend, durch Vernunft kaum anzukränkeln und nicht mehr aus dem Kopf zu kriegen. Jede verkrüppelte Zwergföhre wird als „Bruder Baum“ praktisch zum Familienmitglied. Im Stuttgarter Schlossgarten kann man besichtigen, wie weit diese Zuneigung mitunter geht: Ein Stamm wurde mit Teddybären umwickelt, andere sind mit bunt bemalten CDs oder kleinen Basteleien verziert. Fehlt nur noch, dass fleißige Stuttgarterinnen den Bäumen wollene Mäntelchen stricken. Ist ja kalt im Winter.

Doch der Spott über die Deutschen bleibt einem angesichts der österreichischen Umtriebe im Hals stecken. Seit Jahren versuchen etwa die „Freunde des Augartens“ den Bau eines Konzertsaals für die Sängerknaben am Augartenspitz zu verhindern. Es geht dabei um Bäume, von denen die Allgemeinheit schon bisher nicht sehr viel hatte; dieser Teil des Parks ist nämlich nicht zugänglich.

Auf der sogenannten Marillenalm im zwölften Wiener Gemeindebezirk kämpfen zwei Bürgerinitiativen gegen den Neubau eines alten Hotels. Die bedrohten Parkbäume wurden im Winter mit Flugzetteln geschmückt: „Ich Baum soll sterben“, heißt es darauf. Grammatikalisch mag das unschön sein, aber das Pathos ist erstklassig. Auf die Idee, ein paar Festmetern Biomasse Todesahnungen zu unterstellen, muss man erst mal kommen.

Erleichtert werden Rettungsaktionen für Bruder Baum durch den Umstand, dass die Betroffenen trotz ihrer Unhandlichkeit gut zu verteidigen sind. Hat sich der Aktivist erst einmal am Stamm festgekettet oder in der Baumkrone häuslich niedergelassen, ist er mit sozialverträglichen Mitteln kaum mehr zu entfernen. In den meisten Fällen regelt sich der Notfall durch die Biologie von selbst. Irgendwann wird den Leuten kalt, sie bekommen Hunger oder müssen aufs Klo. Doch darauf kann man sich nicht immer verlassen, wie die Geschichte von Julia Butterfly Hill zeigt. Die junge Amerikanerin hatte am 10.Dezember 1997 einen kalifornischen Küstenmammutbaum bestiegen– und kam 738 Tage nicht mehr herunter. Sie lebte auf zwei je vier Quadratmeter großen Plattformen, wurde von unten mit Essen versorgt und verrichtete ihre Notdurft in Kübeln.

Das Unternehmen Pacific Lumber, das den Riesenmammut gerne gefällt hätte, bemühte sich durchaus beherzt, die junge Frau auf den Boden zu holen. Unter anderem wurde versucht, sie mit dem Aufwind von Hubschrauber-Rotorblättern vom Baum zu fegen. Doch nach etwas mehr als zwei Jahren war Schluss, die Firma gab auf, der Mammut und alle seine Kollegen im Umkreis durften stehen bleiben.

Käfer und Fledermäuse.Wer im städtischen Raum ein paar Bäume umsägen will, muss grundsätzlich mit dem Schlimmsten rechnen. Nicht immer hat der Gegner zwei Beine und sitzt auf einer Astgabel. In, an, unter und auf Bäumen kreucht bekanntlich alles mögliche, und es findet sich meist eine Spezies, die vor dem Aussterben gerettet werden muss. Der Juchtenkäfer im Stuttgarter Schlossgarten ist mit seiner gesellschaftlichen Verantwortung also nicht allein; der Bahnhof bedroht angeblich auch die Fledermäuse.

Bis Sommer 2011 haben die armen Kreaturen nun gottlob Galgenfrist.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.10.2010)

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