Wort der Woche

Neue Spiritualität und Verschwörungstheorien

Corona macht eine dritte Lebensreformbewegung sichtbar: eine wissenschaftsfeindliche Strömung mit Hang zu einer neuen Spiritualität und zu Verschwörungstheorien.

Ende des 19. Jahrhunderts begann sich Widerstand gegen das „moderne“ Leben zu regen: Als Alternative zu Industrialisierung, Urbanisierung und Materialismus strebten viele Menschen nach einer „naturgemäßen Lebensweise“, man ersehnte Heil, man wollte von den „Zivilisationsschäden“ erlöst werden. Diese schon bald als „Lebensreform“ bezeichnete Bewegung hatte viele Gesichter – von Vegetarismus und Naturheilkunde über Nudismus, Tierschutz und Feminismus bis hin zu Ausdruckstanz, Reformbekleidung und freier Liebe.

Der Erste und noch stärker der Zweite Weltkrieg setzten dem ein Ende. Doch der Gedanke blieb und brach in den 1960er-Jahren mit den Hippies wieder hervor. Es entwickelte sich ein alternatives Milieu, das viele Ideen der ersten Lebensreformbewegung reproduzierte – etwa freie Sexualität, alternative Haartracht und Bekleidung oder „Aussteigen“ auf dem Land. Diese Bewegung erlahmte mit der Zeit, u. a. weil viele Elemente in die Mainstream-Jugendkultur übernommen wurden.

Nun scheint eine dritte Lebensreformbewegung über Europa zu rollen, die in der Coronakrise deutlich sichtbar geworden sei, postuliert der deutsche Extremismusexperte und Journalist Andreas Speit in seinem Buch „Verqueres Denken“ (239 Seiten, Ch. Links Verlag, 18,90 Euro). Auch heute suchen viele Menschen nach alternativen Wegen und leben sie auch – Stichwort vegan statt Fleisch, Rad statt Auto, handgemacht statt industriell, regional statt global, mit „ganzheitlichen“ statt materiellen Werten. Häufig geht dies einher mit einem Hang zu „Alternativmedizin“, Impfskepsis, Esoterik und einer neuen Spiritualität (Magier, Schamanen etc.). Diese Subkultur ist wissenschaftsfeindlich und hat auch kein Problem damit, gemeinsam mit Rechtsextremen gegen Pandemie-Maßnahmen für „die Freiheit“ zu demonstrieren.

Bedrohlich findet Speit, dass es dabei offenbar nicht mehr weit ist zu (alten und neuen) Verschwörungstheorien – etwa, dass Coronaviren und -Impfungen von gewissen Milliardären und/oder von geheimen Organisationen in die Welt gesetzt wurden, um die Kontrolle zu übernehmen. Speit beschreibt diese Geisteshaltung mit dem Kofferwort „Conspirituality“, einem Hybrid aus „Konspiration“ und „Spiritualität“. „Was in diesem Milieu für Fakten gehalten wird, beruht in der Regel auf verkürzten Analysen“, so Speit. „Auf den Straßen und in den sozialen Medien hat es sich zu einer emotionalen Gemeinschaft zusammengefunden.“

Der Autor leitete das Forschungsressort der „Presse“ und ist Wissenschaftskommunikator am AIT.

meinung@diepresse.com

www.diepresse.com/wortderwoche

("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.07.2021)

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