Andrea Schurian wundert sich in ihrer Kolumne über die Frage nach dem erwünschten Pronomen und sieht im Gendern eine „Illusion“. Eine Replik.
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In ihrer dieswöchigen Kolumne erzählt meine „Quergeschrieben“-Kollegin Andrea Schurian, dass die Freundinnen ihrer Tochter andere Menschen zu Beginn einer Konversation fragen, mit welchem Pronomen sie angesprochen werden. „Dass die Frage nach jemandes Wurzeln als rassistisch gilt, nicht aber die mehr oder minder unverblümte Frage nach der sexuellen Identität als maximal indiskret empfunden wird“, findet Schurian „einigermaßen irritierend“.
Auf den ersten Blick mag das tatsächlich ein irritierender Widerspruch sein, auf den zweiten ist schnell klar, dass der Vergleich hinkt: Nach dem Pronomen wird jede und jeder gefragt; nach den Wurzeln nur jene, die anders aussehen. Wird man als weiß gelesen, hat noch dazu einen österreichischen oder leicht zuordenbaren Namen, dann bohrt kaum jemand nach, woher man denn „wirklich“ kommt (und meint damit die genetische Abstammung), wo die Eltern geboren wurden und wie man eigentlich zur politischen Führung dieses Landes steht.
Nur gut gemeinte Neugier? Manchmal stimmt das, aber nicht immer. Es kommt auf die Absicht an. Rassismus, also dass die Zugehörigkeit der Person infrage gestellt wird, und Unbeholfenheit darf man nicht vermischen. Es ist eine persönliche Frage; dass jemand nicht darauf antworten will, vor allem nicht, wenn es in Minute drei des oberflächlichen Small Talks zum Thema wird, ist also zu akzeptieren.
Zurück zum Gendern, dem Schurian den Großteil ihrer Kolumne widmet. Dass gendersensible Sprache ein „Zauberschlüssel“ zur Gleichberechtigung ist, sei eine Illusion, schreibt sie. Warum? „Tatsächlich ist die Türkei kein Musterland der Emanzipation, bloß weil Substantive im Türkischen kein grammatikalisches Geschlecht haben“, so Schurian. „Die Niederlande wiederum, die vor 20 Jahren als erstes Land der Welt die gleichgeschlechtliche Ehe legalisiert haben und 2020 im Gender Equality Index 6,2 Punkte über dem EU-Durchschnitt lagen, verwenden das generische Maskulinum, obwohl eine Verweiblichung – ähnlich wie im Deutschen – durchaus möglich wäre.“ Auch diese Vergleiche sind nicht gut gewählt. Zunächst einmal ist eine Stichprobengröße von zwei nicht besonders aussagekräftig. Dazu kommt: Natürlich ist die Sprache nur ein Teil des Gesamtbildes, was die Gleichberechtigung der Geschlechter betrifft. Natürlich gibt es in der Türkei, in den Niederlanden mächtigere Faktoren.
Niemand, auch nicht die vehementesten Befürworterinnen und Befürworter der geschlechtssensiblen Sprache argumentieren, dass Gendern allein für Gleichberechtigung sorgt, es ein „Zauberschlüssel“ zur Gleichberechtigung sei. Nein, es gilt viele Baustellen gleichzeitig zu beackern. Natürlich ist es einfacher, ein Binnen-I oder Gendersternchen zu verlangen oder zu verwenden, als eine Frauenquote in den Führungspositionen von staatsnahen Betrieben oder mehr Budget für Frauenpolitik zu fordern. Ersteres lässt sich nämlich deutlich leichter umsetzen – und das wird oft als Gegenargument verwendet: Die jungen Feministinnen und Feministen sollen sich mit den „echten“ Problemen beschäftigen und nicht mit dem sprachlichen Symbolquatsch, heißt es dann.
Weshalb mich der Widerstand dagegen immer wieder verwundert. Gendern ist ein einfacher Fortschritt. Es tut niemandem weh. Warum können wir uns nicht darauf einigen, es als ersten Schritt zu sehen? Beim Gendern spielt der Prozess nämlich eine wichtige Rolle. Es soll uns zunächst irritieren und zum Nachdenken bringen, und dazu zwingen, anders zu formulieren, um die Regeln der Grammatik weiterhin zu befolgen. In einem weiteren Schritt fällt uns dann auf, wenn etwas fehlt – wo sind die Ärztinnen, wo die Studentinnen?
In einer idealen Welt wäre geschlechtergerechte Sprache egal, weil unsere Gesellschaft ohnehin gleichberechtigt wäre. Aber in so einer Welt leben wir nun einmal nicht – noch nicht, hoffentlich.
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Zur Autorin:
Anna Goldenberg ist Journalistin und Autorin („Versteckte Jahre. Der Mann, der meinen Großvater rettete“, 2018, Paul Zsolnay) und lebt in Wien. Sie schreibt über Medien und Politik für den „Falter“.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.07.2021)